Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
mal’n Punkt«, forderte Pieplow. »Das war eine Kneipenschlägerei und überhaupt kein Grund, ihm einen Mord anzuhängen.«
»Tja«, meinte Sigi. »Scheint, als wenn das mancher hier anders sieht.«
Am liebsten hätte Pieplow ihnen den Kopf gewaschen, gewissermaßen auf Hiddenseer Art. Bis die Seelen rein und einsichtsfähig waren. Aber er hielt sich zurück. Erkannte, dass er hier und jetzt nur dunes Krakeelen bewirken würde, und beschloss, den Abend allein zu verbringen.
Wie allein, wurde ihm klar, als auf dem Heimweg sein Telefon klingelte. Marie.
»Wir haben auf dich gewartet.« Sie klang trotzdem keineswegs enttäuscht. Auch nicht vorwurfsvoll.
»Waren wir denn verabredet?«
»Soweit ich weiß, nicht. Aber es gab Königsberger Klopse und irgendwie dachten wir wohl, du ahnst das und lässt dafür alles andere stehen und liegen.«
»Wie sollte ich denn...« Frauen konnten ihn sprachlos machen. Besonders wenn sie Einladungen zu Lieblingsessen telepathisch übermittelten.
Marie lachte.
Sie nimmt mich auf die Schippe, dachte er. Von wegen sehnsuchtsvolles Warten von Frau und Kind.
»Trotzdem wär’s schön gewesen, dich hierzuhaben.« Das hörte sich ernst an. Ernst und weich und ein wenig traurig. »Nur auf ein Bier und ein bisschen weniger allein sein. Das mit Wanda macht mir ziemlich zu schaffen. Ein bisschen Trost wäre nicht schlecht.«
»Aber es ist gleich zehn«, sagte er und schalt sich im selben Moment einen Idioten. Frauen trösten ging ja wohl spätabends genauso gut wie zu jeder anderen Tageszeit. Womöglich sogar besser.
»Ja, jetzt ist es zu spät«, stimmte Marie zu. »Aber wie wäre es morgen? Oder hast du... Ich weiß ja nicht... vielleicht hast du auch zu viel um die Ohren?«
»Nein, nein, das passt«, versicherte er schnell. Am Vormittag stand das Vorknöpfen von Flitzpiepen auf dem Dienstplan, am Nachmittag nichts. Und das würde hoffentlich auch so bleiben.
»Leonie möchte Fine besuchen. Sie würde sich freuen, wenn du mitkommst. Und ich auch.«
Fine besuchen hieß Friedhof und war nicht das, wonach Pieplow der Sinn stand. Aber was wollte man machen? Friedhof war besser als nichts.
»Klar komme ich mit. Gerne. Du brauchst nur zu sagen, wann.«
»Gegen drei vor der Kirche? Und hinterher vielleicht Eis und Kaffee am Hafen?«
»Das ist gut. Also morgen um drei vor der Kirche.«
»Bis dann. Schlaf gut, Daniel.«
»Du auch. Gute Nacht.«
Und zunächst deutete vieles darauf hin, dass es eine gute Nacht werden würde. Eine ohne Aufregung, fast langweilig. Mit reichlich gesundem Schlaf.
Als er sich in seinen Sessel an der Terrassentür setzte, war es noch nicht dunkel, obwohl die Sonne schon vor knapp einer Stunde untergegangen war. Genau um 20. 39 Uhr, wenn die SA- (6. 13) und SU-Angaben in Pieplows Kalender zutrafen, die er gern las, obwohl ihm bewusst war, wie gleichgültig sie ihm sein konnten. Es änderte schließlich nicht das Geringste an Tages- oder Nachtlänge, wenn er die Minute kannte, in der Sonne respektive Mond auf- oder untergingen. Trotzdem stellte er jedes Jahr wieder Berechnungen an, die Anlass zu tiefschürfenden Fragen waren.
Zum Beispiel: Wie lange würde es im Dezember um diese Zeit schon stockfinster sein? Fünf Stunden mindestens. Vielleicht sogar sechs.
Bei dieser Aussicht seufzte er melancholisch, griff nach der Bierflasche neben sich auf dem Boden und stellte sie gleich wieder ab. Das Summen in seinem Kopf signalisierte ihm, dass er genug intus hatte. Ein nächtlicher Einsatz, bei dem sicherer Gang und klare Artikulation ihre Vorteile hatten, war zwar unwahrscheinlich, aber auch nie ganz auszuschließen.
Pieplow legte seinen Notizkalender beiseite, den Kopf nach hinten an die Sessellehne und lauschte den Nachtgeräuschen in den Gärten ringsum.
Igel, die prusteten und schmatzten wie naschende Kinder.
Weiter entfernt ein Kauz.
Was raschelte und fauchte wie eine wütende Katze, musste ein Marder sein.
Hinter allem das gleichmäßige Rollen der Brandung.
Als Fledermäuse lautlos vorübersegelten, fielen Pieplow die schwarzen Schwäne ein, von denen vorhin die Rede gewesen war.
Vor seinem inneren Auge schwebten sie mit langsamem Schwingenschlag über Wasser und Schilfinseln.
Über Fritz Niemann, dessen starrer Blick ihnen nicht mehr folgen konnte.
Trauerschwäne.
Weil Wanda ihn geholt hatte, erzählten sich die Leute.
Dann hatte sie wohl auch just zur selben Stunde das Neuendorfer Kind auf die Welt geschubst? Eine Seele für die andere?
Und
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