Engpass
tragen – er schickt ein Stoßgebet gen Himmel, als Dank für die ewig gleichen Turnschuhe und Sneakers an den Füßen junger Leute. »Brechen wir auf. Ein Kinderspiel wird es nicht. Aber das wisst ihr vermutlich schon.«
Lose nebeneinander, um den in unregelmäßigen Abständen aufkommenden Windböen nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten, gehen sie los. Schon bald beginnt Anna, laut und drängend den Namen ihrer Mutter zu rufen. Wieder und wieder.
»Scheißjob! Mama hat einen Scheißjob. Unterbezahlt und saugefährlich. Sieht man ja, wo sie das hinführt.« Nachdem Anna sich Luft gemacht hat, schweigt sie. Schon jetzt erschöpft. Dann setzt sich ihr Schreien fort: »Mama, ich bin’s, Anna! Hörst du mich?«
Degenwald und Dino schauen einander an. Schweigend. Sich mit Blicken verständigend. Zu viel reden bringt nichts. Das treibt nur den Sand in ihre Münder. Bei Anna ist das etwas anderes. Die Angst um ihre Mutter bringt sie dazu, alles Mögliche und Unmögliche zu tun. Weil Degenwald das weiß, sagt er nichts. Erst wenn es zu viel für sie wird, wird er eingreifen. Vehement. Das weiß er auch.
Beim Telefonat mit Elsa, tags zuvor, hat Ben ihr drei Wege zum Taubensee durchgegeben. Den über Schleching, vorbei am ehemaligen Zollamt. Die zweite Variante über Hinterwössen, wenige Autominuten von Elsas Zuhause entfernt. Und letztlich über Reit im Winkl, vorbei am sonnigen Plateau, den er mit einem Stopp am reizvollen Hotel Peternhof schöngeredet hat. Den Weg über die österreichische Seite. Jetzt könnte er sich dafür ohrfeigen. Er wollte zeigen, dass er sich bestens auskennt, und Elsas Stimme so lange wie möglich genießen. Was tat man nicht alles für eine Frau? Beeindrucken um jeden Preis. Volltreffer, aber anders als geplant. Seine eigenen Worte machten es ihm jetzt umso schwerer. Er hatte keinen blassen Schimmer, von welcher Seite aus Elsa es zum Taubensee probiert hatte.
Ben will die Suche mit einer Motocrossmaschine aufnehmen. Die leiht er sich von einem Freund, der in Hinterwössen lebt. Früher ist er regelmäßig Drachen geflogen. Von oben hat er jeden Winkel erforscht, Blick um Blick genossen. Das ist ihm jetzt von Nutzen. Genauso wie seine Kondition. Er wird die Maschine seines Freundes kreuz und quer durch den Wald jagen. Elsa kann überall sein. Mit den Scheinwerfern, die er dabeihat, wird er die Dunkelheit austricksen. Ausleuchten, suchen, finden. Das ist sein Plan. Ben spürt, wie sich ein gewisser Automatismus einstellt. Das kennt er vom Sport. Wenn er funktioniert wie eine Maschine, ist er am besten.
Der Wind ist stärker geworden. Anna hat aufgehört zu rufen. Ein einziger Satz Degenwalds hat sie überzeugt.
»Wenn du komplett ausfällst, hilfst du niemandem. Am wenigsten deiner Mutter.«
Schatten gleich durchforsten sie den Wald, die Wiesen, übersteigen Geröll, Wurzeln, Stümpfe, umgefallene Bäume. Anna ist so viel Natur fremd. Sie flucht über die Unordnung zu ihren Füßen. Es ist die Sorge, die heillose Angst um ihre Mutter, die sie so wütend macht. Dino schaut sie manchmal von der Seite an. Seine Augen leuchten. Wie angeknipste Knöpfe. Anna weiß nicht, was in seinem Gesicht vorgeht. Es ist ihr auch egal.
Lautes Motorengeräusch durchdringt den Wald. Anfangs fährt Ben gedankenlos herum. Seine hellen Scheinwerfer bohren sich jedes Mal, wenn er Halt macht, in die Dunkelheit. Er leuchtet die angstzuckenden Körper der Tiere ab. Vögel, Rehe, Murmeltiere, Mäuse, ein Uhu. Alles Mögliche. Er ist so sehr mit sich zugange, dass er Raum und Zeit, alles um sich herum vergisst. Er weiß nicht, ob er damit rechnet, sie zu finden. Er weiß nichts mehr. Doch! Eines weiß er noch. Dass er ein illusorisch überzogenes Gefühl für Elsa empfindet. Dieses Gefühl hat er zwischendurch immer wieder auf- und abgebaut. Auf Echtheit überprüft. Schließlich steht er nicht auf einen eindimensionalen Gefühlshaushalt. Er mag sie. Sie will ihn nicht. Auf diese Kombination pfeift er gewöhnlich. Aber so ist nun mal der Stand der Dinge. Das nach Außen gespielte Ich-krieg-dich-schon-noch-Gehabe nimmt er sich selbst nicht mehr ab. Vielleicht sollte er auf würdevolle Arroganz setzen? Oder, was noch besser ist, sich zurückziehen, in Ruhe seine Kraft bündeln und dann einen erneuten, letzten Vorstoß wagen. Doch das erscheint ihm banal, einfallslos. Erst einmal muss Elsa gefunden werden. Alles andere kommt später.
Dino sieht sie als Erster. »Da vorn, da liegt
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