Engpass
sie!«, brüllt er. Es ist mindestens drei Stunden her, seit sie aufgebrochen sind. Anna hält nichts mehr an Degenwalds und Dinos Seite. Sie rennt auf den dunklen Fleck am Boden zu. Stolpert über irgendwas, fängt sich und hastet weiter. Degenwald leuchtet ihr mit der Taschenlampe den Weg aus. Sie spürt ein Schluchzen, das in ihrer Kehle aufsteigt. Doch das unterdrückt sie. Als sie bei Elsa angekommen ist, geht sie in die Knie und wirft die Arme um sie. Sekundenlang hält sie ihre Mutter fest. Über ihr ist der Himmel sternenübersät, mit dem Muster graubrauner Wolken dazwischen. Panisch hält Anna Elsas Körper. Will ihn nie mehr loslassen. Wie soll sie sich mit all diesen Gefühlen nur auskennen?
»Mama! Mama!«, mehr bekommt sie nicht heraus. Ihr Mund, die Kehle, das Zentrum, das für die Bildung von Wörtern zuständig ist – abgestorben. Nach kurzem Widerstreben lässt sie von Elsa ab. Schaut sie an. Lächelt erleichtert. Ihre Angst, die gerade noch vorherrschend gewesen ist, verkommt. Löst sich auf, Fäden gleich. Wie ein Strickpullover, der Masche um Masche seine Existenz verliert.
Degenwald ist derjenige, der rational vorgeht. Er hilft Elsa auf die Beine, sieht sich ihren Fuß an, schultert sie, gemeinsam mit Dino, und trägt sie Richtung Tal. Um drei in der Früh sind sie, alle völlig erschöpft, zurück in Unterwössen.
Degenwald hat Ben, gleich nachdem sie Elsa gefunden haben, eine SMS geschickt. ›Wir haben sie. Du kannst wieder nach Hause.‹ Ben hat die Nachricht erst entdeckt, als er schon oben, am Taubensee war. ›Fuck you‹, hat er genervt geschrien. Dann ist er umgedreht, um heimzufahren.
Als Elsas Fuß mit essigsaurer Tonerde und Kühlbeutel versorgt ist, fährt Degenwald Dino nach Hause. Elsas Gerede über Birgit Leiner hat er erst einmal ignoriert.
Kaum ist er zu Hause, klingelt das Telefon. Er weiß schon, wer dran ist. Trotzdem hebt er ab.
»Ich bin’s«, gibt Elsa sich unnötigerweise zu erkennen. »Ich kann nicht schlafen.«
»Ich hab’s noch gar nicht versucht«, entgegnet Degenwald. »Aber ich würde gern.«
»Wir müssen reden.«
»Nicht jetzt. Morgen. Das heißt, in ein paar Stunden. Die brauch ich zum Regenerieren.«
»Dazu fehlt die Zeit. Wir müssen Birgit Leiner verhören. Sie hat vermutlich Silke Maihausers Tod zu verantworten.«
»Ach so? Plötzlich? Ich denke, ich hätte jeden Grund dazu gehabt? Ihre Worte.«
Elsa hat aufgehört zu sprechen. »Tut mir entsetzlich leid. Entschuldigen Sie vielmals«, sagt sie dann. »Ich hab mich wohl geirrt. Total verrannt wäre vermutlich richtiger. Aber das muss jetzt hintenanstehen. Wenn Sie wüssten, was ich oben, in der Hütte, gefunden habe, würden Sie nicht so ruhig bleiben.«
»Um sieben stehe ich wieder zur Verfügung, Frau Wegener. Bis dahin wird Birgit Leiner wohl kaum nach Südafrika ausgewandert sein.«
Er legt auf, ignoriert das erneute Klingeln und lässt dem Anrufbeantworter den Vortritt. Er macht es sich in voller Montur auf dem Bett gemütlich, um den Restschlaf zu kassieren, der es ihm ermöglichen soll, bald schon mit voller Kraft weiterzuarbeiten.
Elsa humpelt vorsichtig in die Küche. Es ist kurz nach sechs. Draußen hat der Sturm nachgelassen. Anna steht am Herd, hat Teewasser aufgesetzt und bereitet Müsli zu.
»Hi, Mama.«
»Guten Morgen, Anna. Was machst du so früh auf den Beinen?«
»Dasselbe wie du. Wach sein.«
Anna gießt Milch über eine Flockenmischung und gibt Rosinen und Honig dazu. Sie lässt die klebrige Masse in einem wirren Muster in die Schüssel laufen. »Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Mach das bitte nie wieder«, verlangt sie ernst von ihrer Mutter.
Elsa hat kurz den Arm um ihre Tochter gelegt.
›Du erdrückst mich‹, sagt Annas Blick.
Rasch zieht sie den Arm zurück. »Kommt nicht wieder vor. Das mit dem Wegbleiben.« Sie zögert. »Und die Armattacke selbstverständlich auch nicht.«
Anna lächelt gequält und rührt wie wild in ihrem Müsli herum. »Warum hast du nicht angerufen? Ich hab mir, verdammt noch mal, echt Sorgen gemacht.«
»Mein Handy liegt vermutlich oben, in einer Hütte am Taubensee. Anrufen war also nicht drin.«
»Ziemlich blöde Situation«, ist Anna rückblickend klar.
»Das kannst du laut sagen.«
Anna ist fertig mit Frühstückmachen, stellt sich und Elsa je eine mit Trauben verzierte Schüssel auf den Tisch. »Lass uns essen, dabei kannst du mir erzählen, worum es diesmal geht. Bei deinem Fall, meine
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