Engpass
kann sie sich nur so vorstellen, dass man ursprünglich eine einzige, sozusagen vollständige, heile Realität gehabt hatte, die später, irgendwann, durch irgendwas in verschiedene Teile zerstoben war. Danach hatte jedes Wesen nicht mehr länger nur eine Realität gehabt, die es leben konnte, sondern mindestens zwei. Vielleicht sogar viele, viele mehr. Nur so konnte sein, dass man in einer davon das Gute lebte und in einer anderen das Böse. Verschiedene Dimensionen, verschiedene Wahrnehmungen.
Anna wischt ihre eigenen Antworten mit einem letzten Gedankengang fort.
Draußen treibt der Tag ein Bündel Sonnenstrahlen durch die Fensterritzen. Sie will, egal wovon, nichts mehr hören. Nichts wissen, nichts ahnen, nichts denken, nichts tun.
Nichts, fällt ihr plötzlich auf. War das nicht das Gegenteil von dem, worüber der Lehrer, aus Goethes Gedanken heraus, vor der Tafel referierte?
Auf dem Weg zur Brauerei Bramlitz entscheidet Elsa sich für einen Umweg. In Prien, das hat sie von Hanne Maihauser erfahren, praktiziert Fred Maihausers Hausarzt.
Kaum im Wartezimmer und noch ehe sie erklären kann, dass sie keine neue Patientin, sondern von der Mordkommission ist, kommt Elsa auch schon dran.
Im Sprechzimmer eines jungen Absolventen der Uni, der entweder durch einen Lottogewinn oder andere glückliche Umstände derart früh in den Genuss einer eigenen Praxis gekommen ist, macht sie es sich bequem, nimmt ein Glas Wasser entgegen und legt dann den Hintergrund ihres Besuches offen.
»Ich ermittle in den Mordfällen Silke Maihauser und Anong Bramlitz. Als ich gestern mit Fred Maihauser zusammengekommen bin, habe ich sehen können, dass er Medikamente nimmt. Sie, als sein Hausarzt, können mir sicher sagen, wofür oder wogegen Herr Maihauser diverse Mittel nimmt.«
Der Arzt, der über stechend blaue Augen, kurze rotblonde Haare und einen durchtrainierten Körper verfügt, sitzt ihr mit offenen Händen, klarem Blick und einem unbefangenen Lächeln gegenüber.
»Suhlen im Mief und Moder menschlichen Sumpfs.« Er seufzt. »Kein leichter Job, den Sie da haben.«
Elsa nickt. »Anscheinend verfügen Sie über ein ausgeprägtes philosophisches Verständnis. Umso besser. Sie können mir meinen Job ein bisschen erleichtern.«
»Könnte ich. Wenn die Schweigepflicht nicht im Weg stünde.«
»Die können Sie locker umgehen.«
»Wenn ich jemand wäre, der sich keine Gedanken macht, natürlich«, entgegnet der Mediziner.
»Helfen Sie mir nun oder nicht?«
»Muss ich mich sofort entscheiden?«
»Würde es Ihnen helfen, wenn ich Sie vorlade?«
»Nicht unbedingt.«
»Es geht um Mord. An zwei unschuldigen Frauen.«
Der Arzt nickt, zögert nicht länger und regelt alles in einem Satz. »Herr Maihauser leidet an Leukämie. Es wird nicht mehr lange dauern.«
Elsa bedankt sich, reicht ihm die Hand, die er fest und geübt in seine nimmt, und geht zur Tür.
»Ach ja«, sie dreht sich noch mal nach ihm um. »Wie lange weiß Herr Maihauser schon davon?«
»Seit ungefähr fünf Wochen.«
»Danke! Sie haben mir vielleicht sehr geholfen.«
Der Arzt wendet sich wieder seinem PC zu und Elsa verlässt das Sprechzimmer.
Als sie aus der Praxis kommt, entscheidet sie sich zu einem kurzen Spaziergang. An der Promenade des Chiemsees setzt sie sich auf eine Bank. Es wimmelt vor Menschen und Situationen. Noch immer herrscht der späte Sommer. Tag für Tag. Auch heute. Elsa genießt das Treiben, das ihr das Gefühl vermittelt, sie ließe sich von ihrer Arbeit entführen. Im Wasser vor ihr schaukeln Boote. Sie schaut auf sanfte Wellen, treibt ihnen nach. Fliegt mit den Möwen, hinauf, himmelwärts. Paddelt mit den Enten aufs offene Wasser, der Endlichkeit des Sees entgegen. Sie saugt die Seeluft in ihre Lungen. Alles ist so schön, so neu, so lebendig, so echt. So wirklich.
Das Gespräch mit Maihausers Arzt hat ihr schmerzhaft, aber auch mit einem unbändigen Willen eines aufgezwungen: Das größte Geschenk ist, zu leben, geliebt zu werden und wiederzulieben. Auch wenn dazwischen schmerzliche Pausen, dunkle Abschnitte liegen, die einem das Gegenteil vorgaukeln mögen. Das Leben ist da. Jede Sekunde aufs Neue. Immer gleich. Ohne irgendeinen Stempel. Frisches, nacktes, ungeprägtes Leben.
»Du hast also nur noch eine befristete Aufenthaltsgenehmigung auf diesem Planeten, Fred Maihauser«, murmelt Elsa vor sich hin. Das ändert manches. Die Frage ist nur: was?
Wenn etwa seine Frau oder Dino etwas mit dem Mord oder zumindest der
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