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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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einem Drahtgestell sitzenden Brillengläser blitzten in der Wintersonne auf. »Wirklich, Mister Jericho, eine Predigt, die Sie offensichtlich nicht gehört haben, eine Bank, auf der Sie nie sitzen - man könnte fast vermuten, daß Sie eine Frömmigkeit vortäuschen, die Ihnen in Wirklichkeit abgeht.«
    »Ah…«
    »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«
    Sie hatte das Tor erreicht und schwang sich mit überraschender Anmut auf den Sattel ihres Fahrrads. Das lief nicht so, wie Jericho es geplant hatte. Er mußte den Arm ausstrekken und ihre Lenkstange festhalten, um sie am Wegfahren zu hindern.
    »Ich war nicht in der Kirche. Tut mir leid. Ich wollte mit Ihnen reden.«
    »Seien Sie so gut, und nehmen Sie Ihre Hand von meinem Rad, Mister Jericho.« Ein paar ältliche Gottesdienstbesucher drehten sich zu ihnen um. »Sofort, wenn ich bitten darf.« Sie drehte die Lenkstange hin und her, aber Jericho ließ nicht lokker.
    »Es tut mir wirklich leid. Es dauert nur einen Moment.«
    Sie funkelte ihn an. Einen Augenblick schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß sie sich gleich bücken, einen ihrer kompakten Laufschuhe ausziehen und ihm damit auf die Finger schlagen würde. Aber in ihren Augen lag außer Zorn auch Neugierde, und die Neugierde siegte. Sie seufzte und stieg ab.
    »Danke. Dort drüben ist eine überdachte Bushaltestelle.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die gegenüberliegende Seite der Church Green Road. »Opfern Sie mir fünf Minuten. Bitte.«
    »Verrückt. Total verrückt.«
    Als sie die Straße überquerten, klapperten die Räder ihres Fahrrads wie Stricknadeln. An der Haltestelle lehnte sie es ab, sich hinzusetzen. Sie stand mit verschränkten Armen da und schaute den Hang hinunter in Richtung Stadt.
    Er versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, womit er zum Thema kommen konnte. »Claire hat mir erzählt, daß Sie in Baracke 6 arbeiten. Das muß interessant sein.«
    »Claire hatte nicht das Recht, Ihnen oder irgend jemand sonst zu sagen, wo ich arbeite. Und nein, es ist nicht interessant. Alles Interessante ist offenbar Männersache. Die Frauen erledigen den Rest.«
    Sie könnte hübsch sein, dachte er, wenn sie sich ein bißchen Mühe gäbe. Ihre Haut war so glatt und weiß wie Elfenbein. Ihre Nase und ihr Kinn waren zwar scharf geschnitten, aber trotzdem zierlich. Sie trug kein Make-up, und ihre Miene wirkte ständig verärgert, ihre Lippen waren zu einer dünnen, sarkastischen Linie zusammengepreßt. Ihre kleinen, hellen Augen hinter den Brillengläsern funkelten vor Intelligenz.
    »Claire und ich, wir sind…« Er wedelte mit den Händen und suchte nach dem richtigen Wort. In solchen Dingen war er ziemlich hilflos. »Miteinander gegangen, sagt man wohl. Bis vor ungefähr einem Monat. Dann hat sie sich geweigert, weiter etwas mit mir zu tun zu haben.« Ihre Feindseligkeit brachte seine Entschlossenheit ins Wanken. Er kam sich ziemlich albern vor, wie er so dastand und auf ihren Rücken einredete.
    »Und um ehrlich zu sein, Miss Wallace, ich mache mir Sorgen um sie.«
    »Wie merkwürdig.«
    Er zuckte die Achseln. »Ich gebe zu, wir waren ein etwas ungleiches Paar.«
    »Nein.« Sie drehte sich zu ihm. »Ich meine, wie merkwürdig, daß Leute sich immer veranlaßt sehen, die Sorge um ihr eigenes Wohlergehen als Sorge um das Wohlergehen anderer zu tarnen.«
    Ihre Mundwinkel gingen nach unten, ihre Version eines Lächelns, und Jericho stellte fest, daß Miss Hester Wallace anfing, ihm zu mißfallen, nicht zuletzt deshalb, weil ihr Argument ins Schwarze getroffen hatte.
    »Ich will ein gewisses Eigeninteresse nicht bestreiten«, gab er zu, »aber ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Ich glaube, sie ist verschwunden.«
    Sie schnaubte. »Unsinn.«
    »Sie ist heute morgen nicht zur Arbeit erschienen.«
    »Eine Stunde Verspätung bei der Arbeit ist noch kein Verschwinden. Sie hat wahrscheinlich verschlafen.«
    »Ich glaube nicht, daß sie letzte Nacht überhaupt heimgekommen ist. Bis zwei Uhr ist sie jedenfalls nicht aufgekreuzt.«
    »Dann hat sie vielleicht irgendwo anders verschlafen«, sagte Miss Wallace boshaft. Die Brillengläser blitzten wieder.
    »Übrigens, darf ich fragen, woher Sie wissen, daß sie nicht nach Hause gekommen ist?«
    Er hatte gelernt, daß es besser war, ihr nichts vorzulügen.
    »Weil ich ins Haus gegangen bin und auf sie gewartet habe.«
    »Also ein Einbrecher außerdem. Allmählich begreife ich, weshalb Claire nichts mehr mit Ihnen zu tun haben wollte.«
    Zum Teufel mit alledem,

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