Enigma
würden, man würde die schwerfälligen elektromechanischen Schaltungen durch Relais aus Fünf-Elektroden-Röhren und GTIC-Thyratronröhren ersetzen und so Computer schaffen, die eines Tages imstande wären, die Aktionen des menschlichen Gehirns nachzuvollziehen und die Geheimnisse der Seele zu entschlüsseln…
Jericho wanderte zwischen den Toten umher. Hier war ein kleines Steinkreuz mit einer Girlande aus Steinblumen, dort ein streng dreinblickender Engel, der aussah wie Miss Monk. Die ganze Zeit hörte er nicht auf, dem Gottesdienst zu lauschen. Er fragte sich, ob jemand aus Baracke 8 in der Kirche war, und falls ja, wer. Würde Skynner zu Gott beten, wenn alles andere versagte? Er versuchte sich vorzustellen, auf welche bisher ungenutzten Reserven des Kriechertums Skynner zurückgreifen würde, um mit einem Wesen in Verbindung zu treten, das einen noch höheren Rang innehatte als der Kriegsminister, und er stellte fest, daß er es nicht konnte.
»Der Segen des Allmächtigen, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sei mit euch und ruhe auf euch immerdar. Amen.«
Der Gottesdienst war vorüber. Jericho wanderte schnell zwischen den Grabsteinen hindurch, entfernte sich von der Kirche und postierte sich hinter einer Gruppe aus dichten Büschen. Von hier aus hatte er einen ungehinderten Blick auf das Portal.
Vor dem Krieg hätten die Gläubigen beim erhebenden Klang sämtlicher Glocken die Kirche verlassen. Aber jetzt durften die Glocken nur im Falle einer Invasion geläutet werden, und deshalb verlieh die Stille, unter der die Tür aufging und ein ältlicher Geistlicher erschien, um sich von seinen Gemeindemitgliedern zu verabschieden, der Zeremonie eine gedämpfte und sogar melancholische Atmosphäre. Ein Gottesdienstbesucher nach dem anderen trat hinaus ins Tageslicht. Jericho erkannte niemanden. Er machte sich klar, daß er wohl die falsche Schlußfolgerung gezogen hatte. Doch dann erschien tatsächlich eine kleine, magere junge Frau in einem schwarzen Mantel.
Sie reichte dem Geistlichen kurz, beinahe schroff die Hand, sagte nichts, hängte ihre Handtasche über die Lenkstange ihres Fahrrads und schob es auf das Friedhofstor zu. Sie ging schnell mit kurzen Schritten und hatte das scharfe Kinn hoch erhoben. Jericho wartete, bis sie ein Stück an ihm vorbei war, dann trat er aus seinem Versteck hervor und rief hinter ihr her: »Miss Wallace!«
Sie blieb stehen und schaute in seine Richtung. Ihr schlechtes Sehvermögen zwang sie, die Stirn zu runzeln. Ihr Kopf bewegte sich unsicher von einer Seite zur anderen. Erst als er nur noch zwei Meter von ihr entfernt war, dämmerte Erkennen in ihrem Gesicht.
»Oh, Mister…«
»Jericho.«
»Natürlich. Mister Jericho. Der Fremdling in der Nacht.« Die Kälte hatte ihre Nasenspitze gerötet und zwei scharf umrissene Farbflecken von der Größe einer Halbkronenmünze auf ihre weißen Wangen gemalt. Sie hatte langes, dichtes schwarzes Haar, das sie auf dem Kopf aufgetürmt trug, festgehalten von einem ganzen Arsenal von Haarnadeln. »Wie fanden Sie die Predigt?«
»Erhebend?« sagte er vorsichtig. Es schien leichter, als die Wahrheit zu sagen.
»Ist das Ihr Ernst? Ich fand, es war der größte Unsinn, den ich in all den Jahren gehört habe. ›Einem Weibe aber gestatte ich nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei…‹« Sie schüttelte wütend den Kopf.
»Was meinen Sie, ob es Ketzerei ist, wenn man den heiligen Paulus ein Rindvieh nennt?«
Sie setzte ihren flotten Marsch in Richtung Straße fort. Jericho hielt mit ihr Schritt. Er hatte von Claire einige Details über Hester Wallace erfahren - daß sie vor dem Krieg Lehrerin an einer privaten Mädchenschule in Dorset gewesen war, daß sie Orgel spielte und die Tochter eines Geistlichen war, daß sie die vierteljährlichen Mitteilungen der Jane Austen Society erhielt -, gerade genügend Hinweise, daß er sich ein Bild von einer Frau machen konnte, die unmittelbar nach einer achtstündigen Nachtschicht in die Kirche ging.
»Gehen Sie sonntags oft in die Kirche?«
»Immer«, sagte sie. »Obwohl ich mich immer öfter frage, weshalb ich das tue. Und Sie?«
Er zögerte. »Gelegentlich.«
Das war ein Fehler, und sie stürzte sich sofort darauf.
»Wo sitzen Sie? Ich kann mich nicht erinnern, Sie je gesehen zu haben.«
»Ich versuche, mich im Hintergrund zu halten.«
»Ich auch. Ich sitze immer ganz hinten.« Sie warf ihm einen zweiten Blick zu, und ihre runden, in
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