Entbrannt
aber sie hatten darauf bestanden, mich noch dazubehalten, unter Beruhigungsmitteln. Sie sagten mir nicht, warum, aber ich wusste, dass alle Angst hatten, ich könnte mir selbst etwas antun.
Jeden Tag saßen Dad oder Evelyn an meinem Bett. Schließlich waren auch andere Besucher zugelassen. Steph war die Erste gewesen. Sie weinte und erzählte mir alles, was geschehen war. Sie sagte mir, wie leid es ihr tat. Ich versuchte, zuzuhören, aber als sie anfing, über Lincoln zu reden, hielt ich sie davon ab.
Danach kamen andere, aber ich sprach nie mit ihnen, selbst als Josephine auftauchte und verkündete, dass sie immer noch Fragen hatte. Ein Teil von mir hatte den Verdacht, dass sie mich und Evelyn wieder einsperren wollte, aber nach allem, was passiert war, konnte sie das unmöglich tun, ohne das Gesicht zu verlieren. Auf einer anderen, großzügigeren Ebene begriff ich, dass Josephine eine echte Kämpferin war. Und wenn sie mich jetzt ansah, war es anders. Sie wusste, dass ich Verbannte vernichten konnte, dadurch war ich in ihren Augen wertvoll.
Sie teilte mir mit, dass die Grigori-Schrift jetzt in ihrem Besitz war, und versicherte mir, dass sie nie wieder in die Hände des Feindes gelangen würde. Ehrlich gesagt schien es schon gefährlich genug zu sein, dass sie in ihren Händen war.
Zum Abschied sagte sie: »D eine Grigori-Prüfung ist noch einmal ausgewertet worden, sie wurde einstimmig anerkannt.«
Ich reagierte nicht.
Jetzt, zwei Wochen nachdem Griffin meine Entlassung aus dem Krankenhaus und die Abreise aus New York veranlasst hatte, war ich wieder zu Hause, und ich war stärker denn je wegen der Kraft des Engels, der mich gemacht hatte, und weil mich jetzt Phoenix’ Essenz durchströmte.
Lincoln hatte ich nicht gesehen. Ich hatte nicht von ihm gesprochen, außer dass ich Griffin die Anweisung gegeben hatte, dass wir ihn mit nach Hause nehmen sollten. Hin und wieder erwähnte ihn jemand. Ich hörte nicht zu, sondern legte einfach den Schalter um und blendete es aus.
Selbst als mir der Engel, der mich gemacht hatte, im Traum erschien, entdeckte ich, dass ich meinen neuen Schalter drücken und ihn ausblenden konnte, als er sagte, wir müssten reden. Nacht für Nacht schickte ich ihn weg. Er war weise genug, sich nicht über meinen Willen hinwegzusetzen. Bis jetzt.
Die Kälte war zurückgekehrt. Sie sickerte in meine Knochen, sodass ich die ganze Zeit wie eingefroren war. Das einzig andere, dem ich nicht Einhalt gebieten konnte, waren meine Gedanken– trotz meiner Taubheit. Wieder und wieder durchlebte ich die Ereignisse dieser letzten Tage und Nächte– all die Entscheidungen, die von so vielen Menschen getroffen worden waren und das aus mir gemacht hatten, was ich jetzt war.
Eine gebrochene Person.
Ich zog meine Wanderschuhe an. Es wurde Zeit. Dad wartete auf mich und ich konnte es nicht mehr länger hinauszögern. Ich ging in die Küche. Evelyn war da. Sie bereitete Frühstück zu. Dad lungerte auf dem Sofa herum und las Zeitung. Sie waren auf ihre Weise glücklich, gleichzeitig lag aber auch Traurigkeit in der Luft.
Fast achtzehn Jahre ihrer gemeinsamen Zeit hatte man ihnen geraubt. Dad wurde älter, während Evelyn so jung aussah, dass man sie für meine Schwester halten konnte. Und es würde noch schlimmer werden.
Evelyn kam mit einem Teller Essen zu mir. Sie trug eine cremefarbene Hose und ein T-Shirt aus Seide und hatte sich eine neue Frisur machen lassen, mit der sie älter aussah. Sie hielt mir einen Teller Rührei hin. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab.
Unsere Beziehung hatte sich verändert. Aus irgendwelchen Gründen »v erstanden« mich meine Eltern im Moment besser als alle anderen. Vielleicht weil sie wussten, was Verlust bedeutete, der Schmerz, den man nicht verstehen kann, bis man den Riss, der dabei durch Körper und Seele geht, gespürt hat. Aber selbst als Evelyn den Teller abstellte– der mich nur an Lincoln erinnerte– und ihre Arme um mich schlang, konnte ich ihre Umarmung nicht erwidern. Mitfühlend zog sie sich zurück, und ich war dankbar darüber. Sie wusste, dass ich noch nicht bereit war, und das war okay.
Dad hielt vor Lincolns Lagerhalle an.
»I ch kann dich begleiten«, sagte er wieder.
Ich schüttelte den Kopf.
Er seufzte. »O kay. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
»D anke«, sagte ich.
Es fühlte sich so vertraut an, die Stufen hinaufzugehen. Ein paar Sekunden lang tat ich so, als wäre alles wie immer. Dass ich an die Tür klopfen würde.
Weitere Kostenlose Bücher