Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
knicken.« Die Mutter war voller Vorwürfe: »Wenn es Gott gibt, sag jetzt mal, warum?« Solche Vorwürfe nicht zu glätten und stehen zu lassen … nicht wegzuschieben. Ich reagiere fast allergisch, wenn in meinem Berufsstand in solchen Situationen Standardantworten kommen. Da werde ich sehr sauer. Also habe ich mich vorsichtig vorgetastet und ausgesprochen, dass ich keine Antwort habe.
Und das wirklich … ja, offen zu halten. »Dein Wille geschehe?« Ganz schwierig. Wenn Menschen seelisch so wund sind … ich möchte da mit sehr großer Behutsamkeit arbeiten. Ich habe nur ein Segensgebet gesprochen, frei formuliert. Und sie spürten wohl meine Hilflosigkeit.
Die Ärzte, die Pflegenden waren sehr erleichtert, dass ich da war. Ich ging schließlich raus, dann sagte eine Krankenschwester. »Wollen Sie einen Kaffee?« – »Ja, und jetzt ’ne Zigarette.« Und dann kamen halt auch Tränen.
Auf bestimmte Patienten kann ich sauer werden. Wegen ihrer Anspruchshaltung. Sie sagen: »Das möchte ich nicht, und das möchte ich auch nicht, und das nehme ich nicht …« Okay, aber warum gehen sie dann ins Krankenhaus? Die Irrationalität, diese sich widersprechenden Botschaften: Behandle mich, aber berühre mich nicht.
Indirekte Aufträge gibt es auch, etwa wenn Schwestern sagen: »Da ist einer bedrückt, wäre gut, wenn Sie mal hingehen würden. Oder den erleben wir als nervend.« Dafür bin ich dankbar, dass ich ein Stück Entlastung schaffen kann. Dass der Patient mir mitteilt, was ihn vielleicht ärgert, und er einfach Druck ablassen kann.
Gerade die starke Arbeitsüberlastung beim Pflegepersonal macht mich wütend. Es ist nicht wahr, dass alles im Gesundheitssystem glatt läuft. Verdammte Hacke, und das soll man endlich auch sagen! Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Diese Phrasen: Das wird schon alles, das geht schon alles, unser Gesundheitssystem ist top. Das stimmt überhaupt nicht.
Dazu passt die Sprache. Es heißt nicht mehr Krankenschwester, sondern offiziell Gesundheits- und Krankenpfleger. Dieser sprachliche Euphemismus, der allenthalben greift. Dass man bestimmte Dinge, wenn sie unangenehm sind, nicht mehr benennt. Dass man Krankheit, Leid und Schmerz als zum Leben dazugehörig leugnet. Es passt in den gesellschaftlichen Gesamtkontext, dass man sich nicht traut, Schwieriges, Schmerzliches, Ungenügendes auszusprechen.
Etwas salopp gesagt: Das Leben endet meistens tödlich. Dieses Bewusstsein wird immer blasser. Daher eben auch die übergroße Erwartungshaltung der Patienten, als ob man unsterblich wäre. Oder auch so: »Ich hab doch bezahlt!« Und dann gefällt das Zimmer nicht. Oder der Bettnachbar. Also eine übergroße Erwartungshaltung im Banalen wie im Existenziellen. Und dafür hab ich keine andere Lösung, als dass jeder sich fragt: Was ist wirklich wichtig? Worauf kommt es an?
Der Selbsthelfer
Siegfried Ibsch, Selbsthilfegruppe Atmen
Es war reiner Zufall, dass ich auf einem Krankenhausflur einen ehemaligen Kollegen wiedersah: »… Wie geht es … was machst du noch so … kommst du mit dem Rentnerdasein klar?« Die üblichen Floskeln halt. Siegfried Ibsch war früher Produktionsleiter beim Fernsehen, beim Organisieren lief er zu Hochform auf. Improvisieren? Ein Genuss! Katastrophen abwenden? Kleinigkeit! Sein großes Talent, im Beruf und im Privatleben, war und ist es, Probleme zu lösen.
Ibsch, ein drahtiger Typ mit viel Schwung, besuchte soeben eine Bekannte seiner Schwiegermutter, die keinen Anhang hatte. Er kümmerte sich um deren Belange. Formulare ausfüllen, Sachen besorgen, einen Schwatz halten. Wir sprachen über Engagement und den Willen, auch für Fremde da zu sein. Über Ehrenämter im Alter, aber nicht nur dann. Er erzählte, dass er vorzeitig aus dem Beruf geschieden war, weil seine Frau Moni vor Jahren schwerstkrank wurde und er rundum für sie da sein wollte. 2005 suchte er eine Selbsthilfegruppe auf, dort bekamen er und seine Frau Unterstützung in den dunkelsten Stunden ihres Lebens. Anfangs waren es zwanzig Leute, inzwischen sind über vierzig engagiert. Selbsthilfegruppen haben sich ausgebreitet, insbesondere solche für chronische oder seltene Krankheiten. Betroffene, Angehörige und Freiwillige sprechen über Therapieformen und Operationsmethoden. Sie bieten Info-Veranstaltungen an, um sich schlauer zu machen. Welche Klinik, welches Medikament ist gut? Hat einer Erfahrung mit diesem oder jenem Arzt, kann man ihm vertrauen? Sie gehen gut gerüstet zu Behörden und
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