Entfernte Verwandte: Kriminalroman
unserer Familie in jeder Richtung spioniert wurde oder dass man immer mal die Seite gewechselt habe … so habe ich ihn jedenfalls verstanden. Aber darüber wurde ja nie geredet, jedenfalls nicht vor uns Kindern.«
»Vor Viktor, dem Baby, ganz bestimmt nicht«, grinste Aljoscha.
»Mal im Ernst. Hast du irgendwas gehört …? Es muss mit Opa zu tun haben, mit dem Krieg und der Zeit davor.«
»Na ja, Vater hat manchmal darüber geredet. Mit Mutter. Du warst noch so klein, dass du dich nicht daran erinnerst«, sagte Aljoscha und wirkte plötzlich verlegen.
»Na und, was haben sie gesagt?«
»Irgendwelche alten Geschichten, ich erinnere mich nichtmehr …«, versuchte Aljoscha sich herauszureden, gab dann aber klein bei. »Opa ist 1937 abgeholt worden. Er musste ins Lager, 10 Jahre bei voller Briefsperre … aber dann haben sie ihn zurückgebracht.«
»Zurückgebracht? Wieso? Weil er unschuldig war? Das heißt, wer war damals schon schuldig oder unschuldig.«
»Ich weiß es nicht. Aber Opa kam zurück. Und im Krieg haben sie ihn dann als Spion nach Finnland geschickt«, erklärte Aljoscha. Er zuckte die Achseln, als er sah, dass ich auf eine Fortsetzung wartete. »Als ich klein war, habe ich Opa gebeten, mir vom Krieg zu erzählen, daran erinnere ich mich noch. Und er hat bloß gesagt, da wurde verdammt viel geschossen und Böses getan. Mehr wollte er nicht verraten.«
Ich kannte meinen Großvater nur von Fotos und aus den wenigen Geschichten, die über ihn erzählt worden waren. Aber ich hatte immer gespürt, dass die Erwachsenen irgendwie verlegen waren, wenn sie von ihm sprachen. Und ich hatte nicht verstanden, warum.
»Aljoscha«, kehrte ich in die Gegenwart zurück. »Ich habe eine Nachricht, die die Gegenwart betrifft, etwas Ernstes. Man hat vor, dich auffliegen zu lassen.«
»Weswegen denn?«, fragte Alexej scheinbar unbeeindruckt.
Ich zählte alle Straftaten auf, die mir von Parjannes und Korhonens Liste im Gedächtnis geblieben waren. Alexej schaukelte auf seinem Stuhl und betrachtete die Wände. Als ich meinen Lagebericht fortsetzte, versuchte er Einspruch zu erheben, doch ich brachte ihn mit der Bemerkung zum Schweigen, ich sei kein Richter und seine Erklärungen seien mir egal, ich wolle lediglich helfen und dafür sorgen, dass mein Bruder auf freiem Fuß bleibe. Alexej nickte und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Stuhllehne.
Ich riet ihm, die Verkaufsständer und Lagerpaletten zu überprüfen, für sämtliche Waren authentisch wirkende Quittungen und Frachtbriefe und Zollbescheinigungen auszustellen. In meinem Büro hätte ich geeignete Stempel und eine große Auswahl an leeren Formularen, fügte ich hinzu. Er müsse sie mit verschiedenen Stiften ausfüllen, lochen und abheften, und einige Papiere solle er ein wenig zerknüllen oder beschmieren.
Alexejs Gesicht wurde immer fahler. Er tat mir leid. Im Grunde war er ein anständiger Ölingenieur. Mit Theorie und Praxis der Tribologie und mit der Berechnung der Viskositätsindexe kannte mein Bruder sich bestens aus, aber was die Verwaltung der dunkelgrauen Wirtschaft betraf, war er ein Anfänger.
Ich beruhigte Alexej und erklärte ihm, es sei ratsam, die Mehrwertsteuer pünktlich zu entrichten und die Arbeitszeiterfassung für seine Verkäufer rückwirkend für die letzten zwei Jahre zu erstellen. Tröstend fügte ich hinzu, wenn die Lage trotz aller Vorsichtsmaßnahmen brenzlig werde, würden meine Juristen Rothovius & Kaarnalahti eben Kaufverträge aufsetzen, die es unmöglich machten, nachzuweisen, dass Alexei Cornostayev Junior Besitzer dieser Firmen war.
Alexej nickte.
»Ach ja.« Mir war gerade noch etwas eingefallen. »Demnächst kommt eine Fuhre Schnaps für mich. Auf den Namen deiner Firma. Lass die Ware in meinen Teil der Halle bringen, falls ich gerade nicht da bin«, erklärte ich, ohne um Entschuldigung zu bitten.
»Schnapsschmuggel und die Polizei im Nacken. Besten Dank, kleiner Bruder«, motzte Alexej.
»Du brauchst weiter nichts davon zu wissen und dich um nichts zu kümmern. Ich muss Geld reinholen. Ende der Debatte.«
»Aha«, sagte Alexej. Ich sah, dass er zu einer längeren Predigt ansetzen wollte.
»Kein Wort mehr«, mahnte ich. »Ich tue das alles in deinem Interesse und zu deinem Schutz.«
Dass jemand, der mir nahestand, in Gefahr geriet, war viel schwerer zu ertragen, als die Schwierigkeiten und Bedrohungen, denen ich selbst ausgesetzt war.
Alexej schien sich zufriedenzugeben. Wir umarmten uns und küssten uns
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