Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
Vom Netzwerk:
ihr. Sie ging nach vorne. Der Zug sollte in einer Minute kommen. Sie fragte sich, wer außer ihr noch am Bahnsteigrand stand und es sich überlegte. Aber sie war nicht gewalttätig. Das war der Schlüssel. Sie konnte diese Männer nicht verstehen. Sie hatte Gewalt nie verstanden. Sie hatte sie nie begreifen können. Sie war fasziniert gewesen. Von Gewalt. Deswegen. Hatte sich dauernd damit beschäftigt. Aber sie war nicht weitergekommen. Sie würde es einem Zugführer der Londoner U-Bahn eben nicht antun. Sie hatte keinen Zug Grausamkeit an sich, der ihr das ermöglichte. Sie war ein gentleman. Sie war ritterlich. Sie verstand Bosheit schon nicht. Und sie war kein guter Mensch. Es waren Fehlstellen. Fehler. In ihren Prägungen fehlte etwas, das ihr das Verständnis für die tiefsten Beweggründe der Welt eröffnete. Aber es hatte sie auch in sich selbst gesichert. Sie hatte sich nicht gegen sich selbst wehren müssen. Sie war wahrscheinlich eine Spießerin. Eine Kleinbürgerin. Sie hatte den Abstieg der Familien und die Wunden des Holocaust. Sie hatte das alles zu einem Unwissen über die Möglichkeit von Gewalt gewandelt. Das war ihre Kulturleistung. Das war dekadent. Zurzeit war das dekadent. Sie hatte gedacht, man machte seine Jobs. Sein Leben. Und das reichte. Kämpfen. Das war nicht vorgekommen. Sie war friedlich. Sie war genuin friedlich. Sie hatte sich selbst kastriert. Sie hatte gar keine Sprache dafür. Das war das Ergebnis ihres Lebens. Sie hatte nicht einmal Kinder. Aus diesem Grund. Weil sie nicht kämpfen hatte können. Und sie würde sich nicht ändern. Sie konnte das nicht. Sie musste als Relikt leben. Und so. Sie hatte das Leben des Vaters nachgestellt. Der schon immer ein Relikt. Ein Parteiloser im Finanzministerium und nie aufgestiegen. Immer ein kleiner Beamter. Mit gutem Namen. Und gutem Benehmen. Aber immer unwichtig. Und jetzt war sie auch da. Nur mittlerweile gab es keine Plätze für solche Anachronismen. Globalisierung und Postfordismus hatten sie in ein nationales Schicksal zurückgeschoben. Sie stand nun als letzter Spross einer guten österreichischen Familie in London und mit ihr war dann alles zu Ende. Einen Augenblick begriff sie das alles vollkommen. Einen Augenblick war sie von einem Wissen über sich und alles in der Welt erfüllt. Erhoben davon. Der Zug fuhr ein. Sie wartete, bis sie einsteigen konnte. Ließ die Menschen an sich vorbei. Machte Platz. Die Zivilisation hat mich wieder, dachte sie. Und sie würde zum Flughafen fahren. Über Paddington. Irgendwie würde sie wegkommen. Für sie war die Reise zu Ende. Sie stieg ein.

26
    Die Türen schlossen sich. Der Alarmton. Selma verzog das Gesicht. Das Geräusch. Sie blieb gleich bei der Tür stehen. Eine Station. Sie hockte sich auf die gepolsterte Stange. Gleich neben der Tür. Lehnte den Rucksack neben sich. Balancierte den Rucksack. Hielt ihren Arm über ihn. Der Zug beschleunigte. Sie stellte die Füße fest auf den Boden. Die Beschleunigung auszugleichen. Festen Stand zu haben. Sie fuhr ab. Sie war fertig hier. Sie musste nach Hause. Angeschlagen. Sie war angeschlagen. Sie musste zurück und. Was. Was sollte sie werden. Ganz. Heil. Gesund. Normal. Sie verschränkte die Arme. Sie behielt den Riemen des Rucksacks über dem rechten Arm und verschränkte die Arme ineinander. Der Rucksack begann von dem Sitzbalken abzurutschen. Sie beugte sich nach rechts. Das Gewicht aufzufangen. Die alte Frage. Die Frage, die man Kindern stellte. »Was willst du denn werden. Wenn du groß bist. Wenn du einmal groß bist.« Diese Frage. Die konnte sie jetzt. Die musste sie mit einem Eigenschaftswort beantworten. Sie konnte nur mehr eine Eigenschaft werden. Sie konnte nur mehr ein Wie werden. Nicht mehr ein Jemand. Kein Schuster oder Schneider. Feuerwehrmann oder Lokomotivführer. Sie konnte nur mehr ganz werden. Ganz. Heil. Gesund. Tüchtig. Vielleicht noch tüchtig. Dann hatte sie die ganze Nazipalette von Eigenschaften. Und da lag die Beraubung begraben. Da war es versteckt. Diese Geschlechtslosigkeit. Sie konnte nur mehr eine Frau werden. Wie. Das war weiblich. Was. Das waren die Männer. Sie wurde also darauf reduziert, wovon sie sich weggearbeitet hatte. Oder vielleicht. Der Gedanke. Der Zug rüttelte schneller. Der Gedanke schlug gegen ihre Stirn. Kam aus dem Rütteln und schlug von vorne gegen ihre Stirn. Hatte der Anton sie verlassen. Verlassen können. Weil ihre Mutter aus einer. Weil aus der Familie der Mutter. Weggehen hatten müssen. So

Weitere Kostenlose Bücher