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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Aber dieses Limbo. Der Kopf. Die Frau schrie nicht mehr. Elend. Sie ließ sich zu Boden gleiten. Aufrecht nicht so gut. Und warum sagte niemand etwas. War sie allein übrig geblieben. Sie musste ein Lebenszeichen. Wenn es Licht gegeben hätte. Sie hätte dem Vater. Einen Brief. Schriftlich wäre das gegangen. Das war traurig. Das war sehr traurig. Dass mit dem Reden. Dass das nicht gegangen wäre. Sie hätte als letzte Erinnerung die Telefonstimme ihres Vaters. Der ihr riet, nicht zu lange zu machen. Weil es so viel kostete. Und wie hätte sie ihm sagen können. Schriftlich. Das wäre möglich gewesen. Aber in dieser Finsternis. Es war sinnlos in diesem Dunkel. Das hatte sie am Skikurs gemacht. Einmal. Wer das Gestöhne der Musikprofessorin am genauesten mitgeschrieben hatte. Das Gestöhne mit dem Aushilfsskilehrer. Am nächsten Tag war nur Gekritzel auf den Zetteln gewesen. Nichts zu lesen gewesen. Und das Gestöhne. Die Frau hatte immer »Ach.« geschrien. Das hatten sie sich merken können.

27
    Sie saß wieder. Lehnte sich nach rechts. Mit der Schulter. Die Beine angezogen. Wie die kleine Seejungfrau. Ihre Füße gegen die Beine des Mannes. Gegen die Oberschenkel. Sie dachte, das wären die Oberschenkel. Sie versuchte nicht, es genau herauszufinden. Sie sagte sich, dass sie beim nächsten Atemzug. Dass sie nach dem nächsten Atemzug den Pyjama aus dem Rucksack holen würde. Heraussuchen. Und dann wartete sie wieder auf den nächsten Atemzug. Ließ sich auf den nächsten Atemzug warten. Sie konnte sich zu keiner Bewegung zwingen. Sich aufraffen. Sie war nie gut gewesen. Sie war nie eine Weste holen gegangen, wenn sie gefroren hatte. Sie hatte es lieber kalt gehabt, als sich aus einer Situation loszureißen. Aus einer Haltung herauszureißen. Und Westen. Schals. Kaffees. Tees. Gläser Wasser. Zeitungen. Das war gebracht worden. Die Mutter im Liegestuhl. Auf dem Balkon. Und der Vater holen gegangen. Selbstverständlich. Das war selbstverständlich gewesen. Höflich. Im Sommer. In Goisern. Auf der Wiese vor dem Haus. In der Küche die Mutter dann wieder allein. Allein alles. Aber sonst. Der Vater hatte es nicht einmal auf sie abgewälzt. Er hatte sie nie geschickt. An seiner Stelle. Aber er hatte es auch nie auf sie ausgedehnt. War das seine Art der Inzestschranke gewesen. War seine Art, ihr nicht beizustehen aus dieser Ritterlichkeit begründet. Sie hätte es abgelehnt. Jedenfalls. Bei jedem Mann. Sie wollte sich ihre Westen selber holen gehen und nicht wie die Mutter. »Karl?« sagen. Mit so einem singend fragenden Ton. Lang gezogen. Und er sofort aufgesprungen. Sie hätte das einem Mann nie erlaubt. Sie hätte keinen Mann so haben wollen. Und jetzt hatte sie auch gar keinen. Darüber sollte sie nachdenken. Darüber hätte sie nachdenken sollen. Sie verschob das Rucksack-Aufmachen auf den nächsten Atemzug. Nach dem nächsten Atemzug. Zuerst Luft holen. Was bedeutete es, dass die Zeit verging. Dass die Zeit verging und nichts geschah. Sie holte Luft. Sie spürte die anderen Menschen. Hatte sie gehört. Sie hätte gerne beigetragen. Teilgenommen. Es hatte Bewegung gegeben. Sie konnte nicht. Ihr Beitrag war, nicht zu schreien. Nicht so zu schreien. Nicht das Schreien dieser Frau zu ersetzen. Sie griff nach ihrem Mund. Legte die Hand dann gegen die Kehle. Sie wollte sicher sein, dass sie nicht schrie. Seit nichts zu hören war, war sie nicht sicher. Seit sie nichts hörte. Nichts mehr hören konnte. Den Pyjama hätte sie vors Gesicht. Warum war sie keine patente Person. Eine von diesen lebenstüchtigen patenten Personen. Wie die Susi Aigersreiter. »Die Susi. Die macht jeden Raum sofort wohnlich.« Aber hier ging es nicht darum, eine Vase richtig zu platzieren. Was man von einer Bühnenbildnerin schon erwarten konnte. Obwohl ihre Trägheit. Ihre Trägheit ließ nicht auf den Ernst der Lage schließen. Wollte sie zugrunde gehen. Nahm sie diese Gelegenheit wahr. Nahmen Menschen solche Gelegenheiten wahr. Oder wurde in solchen Situationen. Wurde da der Überlebenstrieb. Kam der dann ins Spiel. Und hatte sie keinen. Sie griff wieder nach der Kehle. Die Kehle warm gegen die Hand. Sie dachte, die Hand fühlte sich klein an. So gegen den Hals. Auf der Hand des toten Mannes. Ihre eigene Hand war ihr riesengroß vorgekommen. Atmen, sagte sie sich. Den Atem gegen den Bauch stemmen. Das Getobe da hinunterhalten. Im Bauch halten. Vom Magen hinunter. Eine stumpf wirbelnde Dunkelheit. Überlebenstrieb, dachte sie. War ihr der

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