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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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hörte sie. »Nothing definite.« Alles ruhig. Die Stimmen. Die Bewegungen. Schnell. Gezielt. Aber ohne Aufregung. Selma fühlte sich übernommen. Sie wurde davongeführt. Sie war froh. Sie war dankbar. Sie hätte gerne etwas zu dem Mann gesagt. Aber das war nicht der Zeitpunkt. Man wollte sie aus dem Weg haben. So schnell wie möglich. Damit man zu den anderen. Das war alles richtig. Sie musste Platz machen. Ihre Aufgabe war es, zu verschwinden. Sie war keine casualty. Sie war davongekommen. Sie musste weg. Sie setzte ihre Schritte. Sie hielt den Rucksack vorne. Sie traute sich nicht, stehen zu bleiben und den Rucksack über die Schulter zu schwingen. Es konnte nicht so lange sein. Sie waren nicht so weit gefahren. Die Bewegung. Das Dahintrotten. Weggeführt. Sie ließ sich gehen. Folgen. Das Licht vor ihr die Höhle aus. Über die Wände. Kurven. Gehen. Nicht berühren. Nichts berühren. Nur nichts berühren. Diese Schienen unter Strom. Deswegen die Selbstmorde so effizient. In der underground. Vor aller Augen. Alle auf dem Bahnsteig zusehen mussten. Vor aller Augen verschmoren. Zischend. In Zuckungen. Und dann noch der Zug einen mitriss. Mitschleifte. Den schon getöteten Körper noch einmal. Und der Fahrer traumatisiert. Das war auch eine Hinterlassenschaft. Was war mit dem Fahrer ihres Zugs. »Nine thirty five.« sagte jemand hinten. Hinter ihr. Selma sagte sich »gehen«. Gehen. Gehen. Vorsichtig gehen. Sie musste sich diese Ziffer merken. Aufschreiben. Und dann ausrechnen. Wie lange sie da. Wie lange das gewesen sein konnte. Vor ihr ging eine Frau. Sie war schwarz im Gesicht. Die Haare geschwärzt. Wahrscheinlich überall so. Vom Rauch. Die Frau schaute nur auf den Boden. Setzte jeden Schritt genau. War vollkommen in sich gekehrt. Selma presste die Lippen zusammen. Sie wollte reden. Sie hätte mit dieser Frau reden wollen. Sie liebte diese Frau. Sie liebte alle, die da gingen. Sie hatte für alle dieses Gefühl. Warme weinerliche unendlich große Liebe. »Haltung!« befahl sie sich. Sie kicherte dabei. Sie konnte das Kichern nicht unterdrücken. Nicht vollständig. Das Kichern verwandelte sich in Schluckauf. Sie ging. Trottete hinter der Frau her. Vor der Frau ein Mann in Uniform. »Police« stand auf der Weste. Police. Die Buchstaben leuchtend. Weiß. Gelbe Streifen darunter. Davor gingen andere. Eine Elefantenkette. Und dann die Station. Um die Ecke. Eine Kurve. Der Bahnsteig hell. Breit. Sie stiegen Stufen auf der Seite hinauf. Ein Treppchen zum Bahnsteig hinauf. Auf dem Bahnsteig Personen in blauen Uniformen. In orangeroten Hosen und weißen T-Shirts. Ein anderes Blau. Ernste Gesichter. Selma stieg hinauf. Die Sperre zum Bahnsteigrand schlug ihr gegen die Beine. Sie schrie auf. Sie verstummte gleich wieder. Aber die Freude war ihr verdorben. Sie spürte einen Unmut aufsteigen. Hochsteigen. Sie war unglücklich. Sie wollte alle diese Menschen anlächeln. Umarmen. Sich freuen. Sich bedanken. Ihre Liebe ausdrücken. Ihre Dankbarkeit. Ihre Freude. Alles, was sie konnte, war die Frau vor ihr nicht anzufahren. Anzukeifen. Warum sie die Sperre nicht halten hatte können. Offen halten. Sie hielt das giftgrüne Gestänge besonders lange für den Mann hinter ihr. Dann schien das Licht von seinem Helm in ihre Augen. Sie hielt schützend die Hand vors Gesicht. Jemand kam auf sie zu. Ein jüngerer Mann. Sah sie prüfend an. »I am alright.« sagte sie. »A little bit shocked. Perhaps.« Sie hoffte, er hörte die Tränen nicht. Ihre Stimme wackelig. Grantig. Die schlechte Laune füllte sie vollkommen aus. Sie hätte alle anfahren können. Anbeißen. Ausschimpfen. Oder weinen. Der Kopf. Die linke Seite. Sie erklärte dem Mann, dass sie vor allem eine Toilette bräuchte. Upstairs, sagte er. Toiletten befänden sich oben. Er sah sie skeptisch an. Sie solle oben warten. Der Transport zum Royal London Hospital würde gerade organisiert. Sie solle sich oben bei den Sanitätern melden. Dann ging er an ihr vorbei. Ging auf jemanden zu. Auf jemanden hinter ihr. Seine aufmerksame Miene. Er hatte alarmiert an ihr vorbeigesehen. Interessiert. Selma ging auf den Ausgang zu. Zu den Rolltreppen. Uniformierte. Die meisten standen. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Breitbeinig. Ernst. Abwartend. Eine abwartende Stimmung. Leise. Selma ging an den Helfern vorbei. Ihre Misslaune. Sie mochte alle diese Leute nicht. Die ihr keine Aufmerksamkeit schenkten. Sie wusste. Sie spürte. Sie konnte sich ausdenken. Es war deutlich

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