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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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ausgetrieben worden. Konnte man das. Und war das dann kulturell bedingt. Oder persönlich. War das ihre persönliche Geschichte. Und gab es die. Überhaupt. Schien es nicht immer deutlicher zu sein. Gegen allen Willen. Sie war ins nationale Schicksal versunken. War da festgebunden. Sie hätte gerne ein Begehren in sich gefühlt. Wünschte sich eine Begierde. Eine Lebensbegierde. War sie zu höflich zum Weiterleben. War sie nur einfach zu höflich, das Toben in ihr ausbrechen zu lassen. In einen schonungslosen Überlebenskampf auszubrechen und ihr Ende in die Waagschale. Ihren Untergang. Sie hielt die Hand an die Kehle. Drückte Luft zwischen die Rippen. Das Herz. Synkopen. Die Luft konnte nicht ausgehen. Sie dachte, die Luft konnte nicht ausgehen. Das war nicht vorstellbar. Das weitläufige Netz der Tunnelröhren. Die shelter sketches. Im Krieg. Das war ein Zufluchtsort gewesen. Die shelter sketches von Moore. Das war in der alten Tate gewesen. Das Buch war auch. Dort. Zurückgeblieben. Wenn sie ein Kulturprogramm. Ein schönes touristisches Kulturprogramm. Wenn sie sich für diesen Tag etwas Ordentliches vorgenommen hätte. Wenn sie mit dem Tommi gefrühstückt hätte. Sie konnte im Bett liegen. Sie hatte nichts zu tun. Was machte sie im Morgenverkehr. Wenn alle zur Arbeit. Oder anderen Vergnügungen. War der Mann nach Old Street gekommen. Auf der anderen Seite. Sie kam nirgendwohin zu spät. Die Arbeitslosen erledigten ja doch sehr schön den Schicksalsteil der Gesellschaft und die anderen arbeiteten. In Ruhe. Was würde sie lieber machen. War sie überhaupt noch einsetzbar. Musste man sie nicht fern halten. In Zukunft. Sie würde nicht alles vergessen können. Nicht alle Erfahrungen konnten in die Anpassung verdrängt werden. Dazu war sie sich selber gegenüber wieder zu höflich. So sehr konnte sie sich selber nicht negieren. Und dann wieder konnte sie nicht mehr richtig funktionieren. Und niemand würde von ihr eine Arbeitslosenkulturinitiative haben wollen. Missionarische Kulturarbeit. 70er Jahre. Altmodisch. Das wollten vor allem die Sozialdemokraten nicht. Die waren mit Selbstbewusstsein beschäftigt. Die genierten sich genauso für ihre Vorfahren. Wenn das vorbei war. Sie atmete. Wenn sie hier herauskam. Sie saß. Sie stützte sich mit der Hand auf. Sie griff in das Gesicht des Mannes. Sie zuckte zurück. Rutschte weg. Sie kroch weiter. Schob sich weiter. Sie traf wieder auf etwas Weiches. Sie griff danach. Nach langem Zögern. Vorsichtig. Sie hielt die Hand in der Dunkelheit vor sich. Traf auf nichts. Griff tiefer. Eine Schnalle. Leder. Sie tastete genauer. Mit beiden Händen. Der Rucksack. Sie hatte gar nicht begriffen. Sie hatte gar nicht gewusst. Sie hatte den Rucksack gar nicht bei sich gehabt. Hatte sie sich nicht aufgestützt. Auf ihn. War er nicht unter ihr begraben gewesen. Sie suchte nach dem Verschluss. Oben. Hatte jemand. In der Dunkelheit. Oder war es nicht dunkel. Sie saß still. Starr. Sah nichts. Konnte nichts sehen. War es gar nicht dunkel. War sie. Erblindet. War etwas mit ihrem Kopf. Die Dunkelheit und die Stille. Und alle rund um sie. War da niemand mehr. Sie allein. Längst. Allein mit dem toten Mann. Sie hielt den Rucksack. Kniete vor dem Rucksack. Oder wo war sie. Sie musste das herausfinden. Wo war sie hingeraten. Sie würde das nicht ertragen. Blind sein. Nein. Helen Keller in Ehren. Nicht sie. Sie nicht. Und wer war das gewesen. Welcher Politiker war das gewesen. Der immer von »seinen Blinden« gesprochen hatte. Ein ÖVPler war das gewesen. Musste das gewesen sein. Ein alter ÖVPler und typisch für diese Faschos. »Meine Blinden«, und dann die Blindinnen ab ins Arbeitszimmer für eine kleine Fummelei. Blinde. Blindinnen waren sicherlich besonders einfühlsam. Mit dem Tastsinn, den sie entwickeln mussten. Das hatte den sicher. Und warum gab sie das Atmen nicht auf. Sie atmete. »Weil du eine vernünftige Person bist.« sagte sie sich. »Ach.« antwortete sie sich. »Seit wann sind wir denn per du. Sie wissen, ich kann diese ›Du‹-Kultur nicht. Nichts als demütigende Überschreitungen, die als Verständnis getarnt werden.« »Diese elitären Haltungen haben uns auch sehr viel Schaden zugefügt. Meine Liebe. Und viele Sympathien gekostet.« »Ich weiß schon, dass ich gemeint war in allen gegen mich gerichteten Aktionen.« Schnappte sie zurück. »Na, dann können wir die morbiden Gedanken ja aufgeben.« »Blöde Kuh.« sagte sie. Sie sprach es mit englischem Akzent aus. Wie der

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