Entfernung.
wahrzunehmen. Diese Menschen erwarteten Schrecklichkeiten. Diese Menschen bereiteten sich auf diese Schrecklichkeiten vor. Die äußersten Schrecklichkeiten. »They brace themselves.« sagte Selma sich vor. Und dann hätte sie darüber weinen können. Sie sagte sich, dass es diesmal ein Glück war, dass es keinen Platz für sie gab. Dass es keinen Platz für sie geben musste. Sie brauchte nur ein bisschen Ruhe. Sie brauchte nur Zeit. Sie nichts verloren. Leib und Leben. Sie hatte alles gerettet. Leib und Leben. Sie sagte sich das vor. Leib und Leben. Leib und Leben. Leib und Leben. Leib und Leben. Bis die Worte ihre Bedeutung verloren hatten. Sie fuhr hinauf. Die Poster von »Mamma Mia« und »Phantom of the Opera« waren da. Sie war allein. In den weiten Räumen. Keine Passagiere. Die Sanitäter oben dann. Die Polizisten und Polizistinnen. Sie wurde weitergeschoben. Sie solle dahin gehen. Ein Paravant war aufgestellt. Die Busse kämen gleich. Sie sei eine der Ersten. Alles laufe erst an. Ruhig. Beruhigend. Sie ging hinaus. Vor dem Gebäude. Ein Doppeldeckerbus bahnte sich einen Weg durch die Menge. Jemand sagte ihr, dass der Bus sie dann ins Royal London bringen werde. Immer wieder die prüfenden Blicke. Draußen dann. Den Himmel sehend. Selma kehrte allem den Rücken. Strahlend blau. Ein frischer Wind. Warm. Aber eine Brise. Sie ging davon. Eine Polizistin wollte sie aufhalten. Selma lächelte sie an. Ihr ginge es gut. She would not want to clog up the system. Es wäre genug zu tun. Sie sagte es, um die Frau zu beruhigen. Ihrer Pflicht zu entheben. Die Frau sah sie an. Sie waren gleich groß. Sie standen einander gegenüber. Sahen einander in die Augen. Die Polizistin hatte braune Augen. »That bad.« sagte die Frau und hob das gelbe Absperrband für Selma. Selma dachte an das Schreien der Frau. Sie nickte. Duckte sich. Schlüpfte unter dem Band durch. Sie ging davon. Sie brauchte eine Toilette. Mehr brauchte sie nicht. Und dafür musste man nicht in ein Spital transportiert werden. Schon beim Wegdrehen. Plötzlich. Sie hatte nichts mehr mit alledem zu tun haben wollen. Nicht mit den Leuten da. Nicht mit den Helfern. Sie ging. Sie schlängelte sich zwischen den Einsatzfahrzeugen durch. Ging die Hausmauer entlang. Schlüpfte in die Menge. Tauchte in der Menge unter. Eine dunkelhäutige Frau drang auf einen Polizisten ein. Er solle sie in die Underground lassen. Sie müsse fahren. Weiterkommen. Warum er sie nicht durchlasse. Das wäre harassment. Die Frau wurde immer aufgeregter. Schrie auf den Polizisten ein. Gestikulierte auf ihn ein. Der Polizist stand breitbeinig da. Er nahm nicht einmal die Hände vom Rücken. Er sah an der Frau vorbei und wiederholte immer wieder. »Keep moving.« Selma schlängelte sich nach hinten durch. Alle schauten nach vorne. Beobachteten die Einsatzfahrzeuge. Die Hilfskräfte. Manche in weißen Overalls wie Raumfahrer. Sie schnallten Sauerstoffflaschen um. Fixierten die Visiere. Das Innere der Einsatzfahrzeuge. Kleine Werkstätten. Die Umstehenden. Furchtsame Mienen. Hochgereckte Köpfe. Der Himmel blau. Die Luft warm. Ein Wind. Eine Brise. Die Hitze frisch durchweht. Ein älterer Mann. Jeans und kariertes Hemd. Er fragte Selma, ob sie ihm 4 Pfund geben könne. Er müsse seine Frau im Krankenhaus besuchen. Und jetzt. Er müsse ein Taxi nehmen. Wenn die U-Bahn nicht fuhr. Aber wenn er diese 4 Pfund bekäme. Er könnte dann die Frau noch sehen. Vor ihrer Operation. »Mi uaif« und »Oiparäschien« sagte er. Selma musste lachen. Der Mann rauchte nervös. Seine Finger dunkelgelb vom Nikotin. Er roch nach Alkohol. Selma schüttelte den Kopf. Sie habe kein Geld, sagte sie. Im Weitergehen. Sie konnte nicht stehen bleiben. Sie musste nun wirklich dringend auf die Toilette. Und sie wollte die Geldbörse nicht vor diesem Mann aufmachen. Und der Mann. Er würde jemanden anderen finden, der diese Geschichte gut erfunden fand. Eine würde er finden müssen. Eine andere. Bei Bettlern war ihr Alter und ihr Geschlecht sehr gefragt. Mittelalterliche Frauen galten als die einfältigsten. Sie hatte das im »Spiegel« gelesen. Ein Bettler hatte aus der Schule geplaudert. Und es war ja so. Bis dahin. Für sie nur bis dahin. Denn der aus der Schule plaudernde Bettler hatte auch ganz selbstverständlich seine Verachtung für diese Klasse-Frauen erzählt. Selma wollte für das Verachtet-Werden nicht auch noch ausgebeutet werden. Sie sah hinauf. Der Anblick des Himmels. Alles war wieder gut. Sie erinnerte sich.
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