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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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dann konnte sie den Tommi später noch treffen. Oder nicht. Eine solche Wahl. Das war mehr als an all den Abenden der letzten zwei Monate. Oder drei. Eigentlich. Das alles war schon wieder drei Monate her. Und stimmte dieses Hauspsychologiegesetz. War es ihr eigenes Desinteresse an sich, das das Desinteresse aller anderen nach sich zog. Hatte sie ein Signal gegeben. Hatte sie sich selber aufgegeben. Hatte sie zum Rückzug aufgefordert und war die Letzte, die davon erfuhr. Oder war es die normale Verschwendung einer Gesellschaft an ihren Mitgliedern. War es das normale Versinken in Alter und im falschen Geschlecht. Musste sie lernen, das hinzunehmen. Und wie wurde man da nicht zu der Bettelfigur an der Ecke. Wie begriff man das, ohne dieses öffentliche Schauspiel. Dass man nichts mehr bekam. Aber auch das war gleichgültig. Das würde sich alles herausstellen. Ganz offenkundig würde sie viel Zeit bekommen, das herauszufinden. Wie das war. Wie das gemeint war. Wie sich das für sie auswirkte. Sie sollte vergessen werden. Das war alles. Sie würde jeden Tag leichter werden. Das würde sich von alleine tun. Früher hätte sie noch Tbc bekommen müssen. Für so ein Verschwinden. Heute genügte eine Kette von Verwaltungsakten. Das war nicht so luxuriös. Aber luxuriös war ja nichts. Sie ging in eine dunkle Gasse. Ein Pfad. Ein Durchgang zwischen zwei Hausmauern. Eine grün gestrichene Metalltür stand offen. Ein Pflasterstein war gegen die Tür geschoben. Sie offen zu halten. Über dem Türrahmen war ein kleines Schild genagelt. »studio.films.snacks.« stand geschrieben. Selma stieg über die hohe Schwelle und stieg die Stiegen in den Keller hinunter. Sie schlenderte die Stiegen hinunter. Von unten kam Musik. Laut. Lärmig und rhythmisch. Sie kam in einen niedrigen lang gestreckten Raum. Die Musik dröhnend. Hier. Die Wände bemalt. Beklebt. Filmplakate. Aktzeichnungen. An manchen Stellen alles noch einmal übermalt. Große Gesichter, aus denen die Plakate darunter heraussahen. Teile der Gesichter. Tische. Klappsessel. Eine Bar in der rechten Ecke. Der Boden. Staubig. Papierfetzen. Farbspritzer. Eine kleine Bühne links. An der Längswand. Grob zusammengefügte Bretter. Es war niemand da. Sie sah niemanden. Die Musik tobte rund um sie. Sie ging an die Bar. Etwas trinken. Sie wollte etwas trinken. Vielleicht nahm man sich hier alles selber. Und legte das Geld irgendwohin. Sie sah sich um. An der Wand gleich neben dem Eingang hingen Zeichenblätter. Sie ging näher. Es waren Aktzeichnungen. Viele verschiedene Zeichnungen von einem Modell. Der Mann war dick. Seine Brust. Sein Bauch. Die fettgefüllte Haut hing in Kaskaden. Stand in Kaskaden von seinem Rumpf weg. Seine Beine. Die Waden und die Füße. Zart. Die Beine und Füße eines Engels. Die Waden und die Füße wie die vom Canova-Engel in der Augustinerkirche. Wenn sie da vorbeikam. Da ging sie immer hinein und schaute sich die schönsten Männerbeine an. Besuchte den auf den Stufen des Grabmals hingestreckten schönen Androgynen. Und immer dachte sie, dass solche Beine. Wenn man solche Beine hatte. Dann waren alle Probleme gelöst. Der Mann auf den Zeichnungen. Sein Kopf zu den Füßen passte. Sein Kopf. Die Haare eine Welle vom Gesicht weg. Auf manchen Zeichnungen im Profil. Im Halbprofil. En face. Ein Christuskopf. Die Nase gerade. Die Augen groß und rund und die Brauen das Rund der Augen nachzeichnend. Der Mund voll. Kein Bart. Der Mann hatte keinen Bart. Aber er sah aus wie Christus ohne Bart auf den kitschigen Bildern für die Frommen. Ein arischer Christus. Und in diesem Fall. Sie ging näher. Sah genau hin. In diesem Fall ein Christus, der seine eigenen Genitalien nicht sehen konnte. Von oben jedenfalls nicht. Wahrscheinlich. Sie erinnerte sich an eines von diesen Büchern. Die Geständnisse einer Hure. Oder hatte eine Soziologin als Prostituierte gearbeitet und dann ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben. Oder war es die Hure gewesen, die im Theater am Petersplatz aufgetreten war. Das Schlimmste wäre für einen Mann, konnte sie sich erinnern. Es hatte da irgendwo geheißen, dass es das Schlimmste für einen Mann wäre, wenn er seine Genitalien nicht mehr sehen könnte. Von oben. Wenn er an sich hinuntersähe und nur mehr seinen Bauch sehen könne. Wenn er an sich hinuntersähe und nur mehr den vom Fett nach außen getriebenen Nabel sehen könnte. Sie stand vor den Zeichnungen. Das hatten nun Frauen über Männer gesagt. Sie hatte mit keinem Mann

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