Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
ertappt worden war. Denn es gelang ihr nicht, das Tier davon abzuhalten, in ihre Küche einzudringen, egal wie kurz sie die Fenster offen ließ und wie genau sie die Küchenmädchen beaufsichtigte, die in ihrer Nachlässigkeit immer wieder vergaßen, die Türen hinter sich zu schließen. An jenem Tag hatte Chloe ein Fenster aufgehebelt, war an einem Deckenbalken entlanggeklettert, auf den Abkühltisch gesprungen und hatte sich den Bauch voll frischer Nierenpastete geschlagen. Gerade als die Vampyrin das Tier auf den Hof warf, war Neferet vorbeigekommen.
»Wie hat sie es bloß geschafft, sich Fäustlinge anzuziehen?«, rief die junge Neferet aus, als sie die kleine Chloe aus der Schneewehe zog, in der diese gelandet war, ihr die feuchten weißen Flocken aus dem Fell strich und lachen musste, weil das Kätzchen nach den Bändern ihres hermelingesäumten Mantels schlug.
Die Köchin hatte sie ausgelacht. »Du bist jung, aber so was Törichtes hab ich ja noch nie gehört. Chloe ist sechsfingrig – genau wie die Katzen unserer Hohepriesterin und ihres Gemahls. Das hässliche kleine Ding muss von ihnen abstammen, wobei ich keine Ähnlichkeit erkennen kann, außer bei diesen Pfoten.« Kopfschüttelnd und vor sich hin kichernd war die Vampyrin wieder hineingegangen. »Eine Katze und Fäustlinge. Hübsch ist das Kind ja, aber selten dämlich …«
Neferet erinnerte sich, wie ihre Wangen vor Scham und Wut gebrannt hatten – bis Chloe ihr in die Augen gesehen hatte.
Da hatte sich Neferets Welt von unten nach oben gekehrt. Noch einmal wurde sie von jenem Hochgefühl durchflutet – zu wissen, was in dem Geist der Katze vorging. Nicht, dass sie Worte vernahm. Katzen denken nicht in Worten. Sie vernahm Chloes Gefühle, und diese Gefühle sprachen Bände. Chloe sprühte vor Mutwillen. Ihr Bauch war voll, und sie war schläfrig. Aber was viel wichtiger war: Die Katze sah ihr voller Liebe, Glück und Hingabe in die Augen und band sich in jenem Augenblick mit Herz und Seele an Neferet – unverrückbar für ihr ganzes Leben.
Pandeia, die langjährige Hohepriesterin von St. Louis, nannte Neferet nicht töricht. Sie lachte sie auch nicht aus, als Neferet mit der schlafenden Chloe im Arm zu ihr kam und mit atemlosem Staunen die Traumbilder beschrieb, die ihr aus dem Geist der kleinen Katze zuflogen.
»Und, Hohepriesterin, auch den Geist Ihrer Katze kann ich berühren!«, rief Neferet begeistert und zeigte auf die behäbige Dreifarbige, die sich auf dem Fensterbrett ausgestreckt hatte. »Sie ist glücklich, überglücklich, denn sie ist trächtig!«
Vor dem strahlenden Lächeln der Hohepriesterin verblasste selbst der Spott der Köchin beinahe. »Liebes Kind, Nyx hat dir eine wundervolle Gabe geschenkt: eine Affinität zu Katzen, den Tieren, die ihr besonders am Herzen liegen. Unsere Göttin muss dich hochschätzen, wenn sie dir eine solche Gabe verleiht.«
Der herrliche Tag zerfloss, und neue Erlebnisse wechselten sich ab. Monate folgten aufeinander, so rasch wie der Herzschlag der Tsi Sgili.
Sie war noch immer eine Jungvampyrin, aber älter. Man schätzte ihren Rat – zunächst nur wegen ihres Bandes zu den Katzen, die als Begleiter von Vampyren und Jungvampyren frei über das Gelände streiften. Doch hatte ihre Gabe anfangs nur Katzen umfasst, wurde bald offenbar, dass Neferet sich fast ebenso leicht auch in den Geist von Menschen einfühlen konnte.
Bilder der Vergangenheit sprangen sie an, so schnell, dass ihr schwindelte:
»Neferet, es wäre hilfreich, wenn du mit mir in die Stadt kämest. Ich muss herausfinden, ob sich angesichts unserer Vollmondrituale wieder Unruhe unter den Menschen breitmacht.«
Sie war mit Pandeia gegangen. Und während die Menschen sich scheinbar unterwürfig grüßend an den Hut tippten oder den Blick abwandten und taten, als sähen sie sie nicht, hatte Neferet sich der Lawine aus Furcht, Hass und Neid geöffnet, die insgeheim auf die Hohepriesterin einprasselte.
Mit jedem Mal verabscheute Neferet es mehr, in die Stadt zu gehen.
»Neferet, der menschliche Gefährte unserer neuen Lehrerin wirkt unglücklich, es wäre schön, wenn du mir sagen könntest, ob er lieber gehen würde, sich aber nicht darum zu bitten traut«, hatte Pandeia ein andermal gefragt.
Neferet hatte sich in den Geist des Mannes hineinversetzt. Er war nicht unglücklich. Er war seiner Vampyrin untreu, schlich sich tagsüber, während sie schlief, davon, um auf den Flussbooten zu spielen und zu huren.
Die Lehrerin gab
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