Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
hielt inne, blieb reglos in der Dunkelheit stehen und gestattete sich, sie kurz zu betrachten. Hand in Hand mit Stark sprach sie mit Damien und Darius, aber immer wieder wanderte ihr Blick von ihren Gesprächspartnern zu Shaunee. Sie nickte und beteiligte sich an dem Gespräch, aber Aurox erkannte, dass ihre Aufmerksamkeit zum größten Teil ihrer Freundin galt, die trauernd so dicht neben dem Scheiterhaufen stand.
Wahrscheinlich wird Zoey bleiben, bis Shaunee bereit ist, endgültig Abschied zu nehmen
, dachte er. Einen Moment lang schwankte er, ob er ebenfalls bleiben und mit ihr warten sollte. Vielleicht könnte er irgendwie helfen oder etwas Tröstliches sagen.
Nein. Wenn sie blieb, würde Stark bei ihr sein, und Stark konnte seine Gegenwart nur ertragen, wenn Zoey nicht in der Nähe war.
Dennoch fühlte sich Aurox fast so sehr zu Stark hingezogen wie zu dessen junger Priesterin. Er mochte den Krieger aufrichtig gern. Als er ihm und Darius geholfen hatte, den Keller für die roten Jungvampyre herzurichten, hatte es Momente gegeben, wo sie unbeschwert, ja freundschaftlich zusammengearbeitet hatten. Fast hatte Aurox sich gefühlt, als gehörte er dazu. Dann hatten Stark und Darius ihn losgeschickt, um etwas zu holen, und auf dem Weg hatte Thanatos ihn gerufen und gebeten, Zoey zu suchen, da diese zu spät zu einem Termin käme.
Aurox hatte Zoey mühelos gefunden. Ihm war, als könnte er sie immer finden.
Bei ihr war auch Stark gewesen, und plötzlich war der Krieger anders geworden, eisig, hatte Aurox ausgeschlossen und sich so herrisch verhalten, dass Zoey ihn vor aller Augen kritisiert hatte.
Er ist eifersüchtig auf mich
, dachte Aurox. Dabei gab es nicht den geringsten Grund dazu.
Denn Zoey schenkte Aurox kaum Beachtung. Sie blickte kaum jemals überhaupt in seine Richtung. Beim Frühstück war ihm gewesen, als könnte sie es kaum ertragen, mit ihm am selben Tisch sitzen zu müssen.
Aurox wusste, dass er womöglich die Seele eines Menschenjungen namens Heath in sich trug. Diesen hatte Zoey geliebt, ja zu ihrem Gefährten machen wollen, und das, obgleich sie mit ihrem eidgebundenen Krieger verbunden war.
Aurox hatte Damien darüber befragt. Damien hatte ihm die Situation freundlich und geduldig erklärt – nicht dass die Erklärung etwas geholfen hätte.
Aurox verstand sehr wohl, dass es unter Jungvampyren und Vampyren zulässig war, zugleich einen menschlichen Gefährten und einen vampyrischen Krieger oder sogar Gemahl zu haben. Ihm leuchtete das ein. Liebe war ein zu kompliziertes Gefühl, um sie zu reglementieren und zu beschränken.
Aurox verstand aber nicht, wie es zugehen sollte, dass er die Seele eines Menschenjungen in sich trug.
Wo war dieser Heath?
Aurox hatte versucht, ihm nachzuspüren. Mit ihm zu sprechen. Nie hatte er eine Antwort erhalten. Gewiss, ab und zu hatte er merkwürdige Träume, in denen er angelte oder Sport trieb. Oder Zoey küsste.
Nein. Jener letzte Traum kam nicht von etwas Fremdem in ihm. Er träumte davon, Zoey zu küssen, weil er selbst Zoey küssen wollte. Sie war wunderschön. Sie war mächtig. Sie hatte fest daran geglaubt, dass er mehr als nur ein Gefäß des Bösen war, noch ehe er selbst daran geglaubt hatte.
Aurox gab sich einen Ruck. Es spielte keine Rolle, wie Zoey war, denn etwas war sie eindeutig nicht. Sie war nicht an ihm interessiert. Denn die bittere Wahrheit war: Mochte er auch die Seele ihres menschlichen Geliebten in sich tragen, Zoey würde nie vergessen können, wie er erschaffen worden war. Nur dem Tod ihrer Mutter verdankte er seine Existenz.
Das konnte er sich nicht einmal selbst vergeben. Wie sollte dann Zoey es können?
Aber nicht ich habe ihre Mutter getötet!
, schrie es in Aurox.
Wäre ihre Mutter nicht gestorben, dann wäre ich nicht vorhanden!
, mahnte ihn sein Gewissen.
Es war nicht meine Entscheidung! Nicht meine Schuld!
Und doch bin ich für diesen Tod verantwortlich. Weil ich daraus hervorgegangen bin!
Ausgelaugt von der inneren Auseinandersetzung, die stets die gleiche blieb und nie ein Ende finden konnte, tat Aurox das Einzige, wovon er wusste, dass es den ewigen Zwist zum Schweigen bringen würde. Von niemandem bemerkt, huschte er auf die Mauer zu, die das Gelände des House of Night umgrenzte, vier Meter hoch und sechzig Zentimeter breit. Mit übernatürlicher Kraft sprang er auf die Mauerkrone und ließ sich lautlos auf der anderen Seite hinunterfallen. Die Mauer war exakt 2079 Meter lang. Das wusste Aurox nicht etwa aus
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