Entfesselt
- dann wie seine sterbliche Frau von der Pest dahingerafft wurde.
Roberto war einst verwöhnt, boshaft und neidisch gewesen - ich sah, wie er sich veränderte und der Liebling aller Geschwister wurde. Er hatte eine innere Freundlichkeit und ein Herz für die schönen Dinge des Lebens.
Joshua war verletzt und wütend, als er von Rivers und Ottavios Plan erfuhr, die Brüder zu töten. Schon damals war er groß und dünn, mit einem wilden und hungrigen Ausdruck in den Augen und keiner Spur von Sanftheit oder Nachgiebigkeit. River entwickelte eine besondere Liebe zu ihm und beschützte ihn geradezu besessen. Wenn er aus irgendeinem Krieg zurückkehrte, nahm sie ihn auf. Seine körperlichen Wunden heilten schnell - doch sein Geist trug immer mehr Narben davon. Ich konnte Rivers Verzweiflung und ihre Besorgnis spüren.
Ottavio war der Älteste, dann kam River und dann Joshua, Daniel und Roberto. Daniel war der, der in der Mitte irgendwie verloren ging. Ihm fehlte Ottavios eisernes Verantwortungsbewusstsein und auch Rivers großzügige Stärke teilte er nicht. Er verabscheute den Krieg und konnte nicht verstehen, wieso es Joshua immer wieder in den Kampf zog. Daniel mochte jedoch Geld und erwies sich als geschickter Verwalter des Familienvermögens.
Ich bekam faszinierende Einblicke in die Familie, diese uralte, sehr mächtige Familie, die aus der ganzen Welt zusammengekommen war, um füreinander da zu sein, was immer auch passieren mochte.
Ottavio sah, wie ich meinen Sohn verlor, sah mich arm und verzweifelt, dann wunderschön und reich, dann wieder arm und verzweifelt; voller Hass, gedankenlos und selbstsüchtig. Er sah Sea Caraway und die frühe Nastasja mit dem bleichen Gesicht eines Junkies und den kalten, schwarz geschminkten Augen. Er sah, wie ich versuchte, alle Gefühle in Alkohol zu ertränken, und vor meinen Emotionen zurückscheute wie eine Katze vor dem Feuer. Und er sah, wo ich jetzt war: wie ich mich bemühte, wie unsicher ich war, ob ich es schaffen würde, und dass ich fest entschlossen war, River nicht zu enttäuschen. Ich sah, wie River, Ottavio und ihre Brüder sich schworen, einander immer treu zu sein.
Ich beobachtete eine jüngere, schwarzhaarige River, wie sie einem Mädchen aus der Gosse aufhalf - ein Kutschpferd hatte es in den Schmutz gestoßen. Es trug die verschlissene Kleidung einer Dienstmagd, und als River ein Taschentuch herausholte, um dem Mädchen das Gesicht abzuwischen, zuckte es zurück. Ich machte große Augen und schnappte nach Luft, als ich das Gesicht des Mädchens sah: Es war Eva Henstrom, lange bevor ich sie kennengelernt hatte. Meine Gedanken flogen zurück - sie hatte gesagt, dass ihr eine Frau geholfen hatte. Hatte sie den Namen der Frau genannt? Ich glaubte nicht. Aber es war River gewesen - vor sechshundert Jahren.
Ottavio ging jetzt zum wichtigen Teil über: Er folgte in meinen Gedanken wieder und wieder den verschiedenen Geheimgängen, bis ich mich darin selbst mit verbundenen Augen zurechtfinden würde. Unterwegs zeigte er mir Sigils der Tarnung, Verwirrung und Furcht - falls mir jemand folgte, würde derjenige Panik verspüren und vom Weg abkommen.
Dann zeigte River mir Beschwörungen: solche, die mich schützten, und solche, mit denen ich angreifen konnte. Allmählich wurde es mir zu viel - wenn sie mir noch mehr Zeug in den Kopf stopften, würde es zu meinen Ohren wieder herauskommen. Ob ich irgendwas davon behalten würde? Ich wusste es nicht.
Langsam tauchten wir wieder aus unserer Meditation auf. Ein bisschen fühlte sich die Gedankenverbindung an, als hätte man sich gegenseitig kurz nackt gesehen: Danach ist man ein bisschen verlegen, verspürt aber auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl, weil man seine Verletzlichkeit mit den anderen geteilt hat.
Ich versuchte, nicht herumzuschwanken, denn ich fühlte mich überwältigt, aber auch ein bisschen triumphierend. River sah Ottavio an.
»Hast du es gesehen?«, fragte sie leise.
Er nickte und betrachtete mich. Zum ersten Mal waren seine Augen nicht eiskalt. Er mochte mich zwar immer noch nicht, aber wenigstens glaubte er mir jetzt. Er wusste, dass ich nicht die Verräterin war.
Ich schluckte. »Ob die anderen uns ein paar Ingwerkekse übrig gelassen haben?«
River lächelte und rieb meinen Arm. »Gehen wir nachsehen.«
29
Ein Freund von River holte die Pferde ab. Außerdem vereinbarte sie mit dem Besitzer der benachbarten Farm, dass er unsere
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