Entfesselt
er diese Bemerkung aus seinem Gehirn vertreiben. »Rechnet damit, dass ihr verletzt werdet. Dass ihr Schmerzen haben werdet. Lasst euch davon nicht in Panik versetzen. Ihr wisst, dass euch nichts passieren kann, solange ihr den Kopf noch auf den Schultern habt. Kämpft also weiter.«
Rund um den Tisch wurde ernsthaft genickt. Meine Knie zitterten und ich presste die Füße hart auf den Boden, damit das heftige Zittern aufhörte. Es war mir wichtig, ob wir gewannen oder verloren. Es war für mich von Bedeutung, ob meine Freunde verletzt oder getötet wurden. Und ich wollte nicht, dass jemand River's Edge zerstörte. Verdammt, das alles war eine totale Katastrophe. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Wir gingen noch einmal unsere Angriffs- und Fluchtpläne durch und betrachteten die Wege zu den Ausgängen auf einem Diagramm. Ich kam mir vor wie im Flugzeug, wo man sich auch immer auf einen Notfall vorbereiten muss, der dann zum Glück doch nie eintritt. Reyn und Joshua übernahmen das Reden, aber gelegentlich mischte sich Daisuke ein, um etwas zu verdeutlichen oder eine andere Erklärung zu liefern. Die anderen beiden hörten ihm respektvoll zu. Ich fragte mich, was Daisuke wohl dabei empfand. Bedauerte er es, wieder in einen Kampf verwickelt zu werden? Er hätte fortgehen können. Ob er glaubte, dass ihn das Kämpfen auf seinem Weg in die Vollkommenheit wieder zurückwarf?
Doch was dann passierte, ließ uns keine Zeit mehr für moralische Bedenken oder Wankelmütigkeit. Was dann passierte, geschah total überraschend.
***
»Nastasja? Tust du mir bitte einen Gefallen?«, fragte River. Ich stand vom Küchentisch auf und steckte mein Schwert in die Scheide, die ich am Gürtel trug.
»Klar«, sagte ich.
Sie war ganz betreten. »Ich weiß, dass es fast dunkel ist - ich hätte früher daran denken sollen. Ich brauche ein paar Dinge aus einem der Schränke in der Scheune.« Sie gab mir eine Liste und einen Korb. »Die Sachen müssten alle im Schrank in Annes Klassenraum sein - nimm von allem so viel, wie du kannst.«
»Okay«, sagte ich. Klar, ich war eine begeisterte Nachtwanderin. Ganz allein im Dunkeln. Draußen.
»Ich kann mit dir gehen«, bot Daniel an und griff nach seinem Schwert.
»Gute Idee«, sagte River. »Wir möchten nicht, dass jemand allein draußen herumläuft.«
Wir hatten vielleicht noch zweieinhalb Minuten, bevor die Dämmerung der stockdunklen Nacht wich. Ich fand, dass River ein wenig leichtsinnig mit meiner Sicherheit spielte, doch dann wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich vermutlich zu den Leuten gehörte, die entbehrlich waren.
Mit erhobenem Kopf und wachem Blick überquerten wir den Hof. Ich ließ die ganze Zeit die Hand leicht auf dem Griff meines Schwerts liegen, wie Reyn es mir beigebracht hatte. Sehnsüchtig dachte ich an die Tage zurück, an denen ich zwar
menschlich eine Niete, dafür aber zumindest nicht in Gefahr gewesen war.
»Und«, begann Daniel, »was glaubst du, wer hinter diesen Angriffen steckt?«
Er war der Bruder, den ich am wenigsten kannte. Ich hatte eigentlich nur einmal mit ihm zu tun gehabt: als er mich bestechen wollte, River's Edge zu verlassen. Er war irgendwie schwerer zu durchschauen als Rivers andere Brüder. Ich musste wieder an den Bewusstseinsaustausch mit Ottavio und River denken und daran, dass Daniel schon immer das vergessene mittlere Kind gewesen war.
Ich warf ihm einen Blick zu. Er sah nicht ganz so gut aus wie Ottavio oder Roberto. Seine Züge waren etwas weicher, weniger markant. Eigentlich witzig, dass Brynne diesen gepflegten, zivilisierten Typen ignorierte und sich stattdessen auf Joshua eingeschossen hatte.
»Keine Idee? Irgendeine Meinung?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund wollte ich meine Vermutung, dass ich vielleicht einen Onkel hatte oder dass womöglich alte Freunde dahintersteckten, nicht mit ihm teilen.
»Hast du das Gefühl, dass dich dein Aufenthalt hier stärker gemacht hat?«, fragte er und zog das Scheunentor auf. »Hast du viel große Magie gelernt?«
Ich machte ein finsteres Gesicht. Rivers Brüder waren wirklich ein aufdringlicher Haufen. Aber vielleicht wollte er nur herausfinden, ob ich bei einem Angriff hilfreich war oder nicht.
»Und du?«, konterte ich und betrat den Arbeitsraum.
»Oh, ich bin stark genug«, antwortete er gelassen. Er wartete an der Tür, während ich hastig die Regale durchsuchte und alles zusammenraffte, was
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