Entfesselt
kompliziertes, aufregendes, echtes Leben.«
Also, mittlerweile fand ich Geschirr abwaschen und Kühe melken richtig reizvoll.
»Wer weiß alles von diesen Geheimgängen? Wozu sind sie da?«
»Nur ein paar von uns wissen, dass es sie gibt. Also sag es niemandem«, sagte River. »Ich habe angefangen, an ihnen zu arbeiten, als ich die Farm vor rund neunzig Jahren gekauft habe. Ende der Sechzigerjahre hatte ich sie so, wie ich sie haben wollte. Ich bin gern für alle Fälle gewappnet.«
»Aha«, sagte ich und versuchte noch, diese neue Entwicklung zu verarbeiten. »Ott? Stört es dich nicht, dass ich jetzt auch Bescheid weiß?«
Seine Lippen wurden ganz schmal. Ich war sicher, dass ihm abends die Kiefer wehtaten. Und zwar jeden Tag. »Doch, natürlich.«
»Wir haben gewettet«, sagte River. »Also lass mich nicht im Stich.«
Also, jetzt war mein Interesse geweckt.
»Die Gänge sind wie ein Irrgarten«, erklärte Ottavio. »Also pass auf: Du nimmst den rechten Tunnel. An der Abzweigung geht es wieder nach rechts. In diesem Tunnel siehst du dann ...«
Mein Unterkiefer klappte herunter, während ich versuchte, Ott zu folgen. Doch dann legte River Ottavio eine Hand auf den Arm. »Es gibt einen einfacheren Weg, Bruder.«
Und so kam es, dass Ottavio, der König des Hauses von Genua, und ich, die Erbin des Hauses von Island, und River unsere Gedanken miteinander verknüpften.
Wir gingen dazu in den unbeleuchteten linken Tunnel. Ich spürte eine kühle Brise im Gesicht und in den Haaren, was mir verriet, dass dieser Geheimgang keine Sackgasse war - von irgendwo zog Luft herein. Eilig malte River einen großen, perfekt runden Kreidezirkel auf den Steinboden. Ott und ich traten ein und River schloss ihn hinter sich. Ottavio machte in Brusthöhe eine schnelle Handbewegung und ein kleines knisternd-blaues Licht erschien und hing zwischen uns in der Luft. Ich konnte nichts brennen sehen - das Licht existierte aus sich selbst heraus.
Meine Verblüffung ließ River schmunzeln. »Man nennt es Hexenfeuer«, sagte sie. »Man kann es sogar auf Leute werfen.« »Das ist irre«, stieß ich hervor und musste es weiter anstarren. Toll, solche Sachen wollte ich lernen - nicht, wie man eine blöde Salbe aus Minze herstellen kann.
Ott wirkte ziemlich zufrieden mit sich.
Wir hielten uns an den Händen. Rivers Hand war kühl, fühlte sich vertraut an und passte perfekt in meine. Otts Hand war groß und sein Griff wie Stahl. River murmelte Worte, die uns helfen sollten, auf das Licht zu fokussieren und alle Gedanken zu vertreiben. Ich wusste nicht recht, ob ich meine Gehirnaktivität wirklich mit der von Ottavio verbinden wollte, aber ich vertraute River.
Ich hatte in letzter Zeit solche Fortschritte gemacht, dass ich mich jetzt mühelos in einen meditativen Zustand versetzen konnte. Es kam mir vor, als hätte ich erst fünf tiefe Atemzüge gemacht, als die dunklen Wände auch schon in der Ferne verschwanden. Es fühlte sich plötzlich wärmer und gemütlicher an und ich sah River und Ottavio, als stünden wir bei gedämpftem Licht irgendwo draußen. Die erdrückende Furcht vor der bevorstehenden Schlacht fiel von uns ab.
Ottavio war mir immer noch unheimlich und ich schloss ihn instinktiv aus, als ich spürte, wie sich sein Bewusstsein meinem näherte. Sofort sperrte auch er mich aus. River setzte ihre geduldige Miene auf und sang uns langsam wieder zurück in die Entspannung und ins Vertrauen.
Es fühlte sich an wie in der Achterbahn, einer langsamen Achterbahn - ich fuhr sie, wurde aber auch gefahren und betrachtete mich selbst auf dieser Reise, während ich sie gleichzeitig erlebte. Ottavio stocherte ein bisschen in meinen Erinnerungen herum. Ich spürte seine Betroffenheit über den Tod meiner Familie, fühlte, wie er akzeptierte, wer ich war, und sich eingestand, dass ich irgendwann sehr stark sein würde - vorausgesetzt, dass ich jemals etwas lernte und nicht total versagte. Er fragte sich, ob ich die Kräfte meiner Familie bei ihrem Tod an mich genommen hatte, was natürlich nicht der Fall war. Ich: hatte ja nicht einmal gewusst, dass so etwas möglich war. Ich sah die gemeinsamen Erinnerungen von River und Ottavio - ein paar davon freudig, wie das Fest zu Ehren des Heiligen Georg, des Schutzpatrons von Genua; dann wieder dunkle und böse, als River und Ottavio sich gegen Geschäftspartner und andere Leute verschworen, die ihnen Unrecht getan hatten. Ich sah Ottavio heiraten
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