Entfesselt
Reyn auch nicht da war«, fügte Brynne hinzu und versuchte, nicht zu grinsen. Sie wischte sich mit ihrem Arbeitshandschuh den Schweiß von der Stirn. Ich warf ihr hinter Rivers Rücken einen vielsagenden Blick zu und sie versteckte den Anflug eines Lächelns hinter ihrer besorgten Miene.
»Reyn hat mich zum Ausreiten überredet«, murmelte ich. »Ich bin froh, dass euch beiden nichts fehlt«, sagte River. »Hol dir ein Paar Arbeitshandschuhe und hilf uns. Herr Jesus, was für ein Chaos.« Sie eilte auf Reyn zu, der mit einer Schneeschaufel und einer Plane aufgetaucht war, auf die er die Blätter schaufeln wollte.
»Herr Jesus, im Ernst?«, wunderte sich Brynne.
Mir fiel wieder ein, dass Brynne erst etwa zweihundertdreißig Jahre alt war. »Herr Jesus«, wiederholte ich. »Das habe ich schon seit Jahrhunderten nicht mehr gehört. Um 1500 war es weit verbreitet. Heute benutzt man meistens die Kurzform und sagt >Ach, herrje<. Das hast du doch sicher schon mal gehört, oder?«
»Logisch.« Brynne richtete sich auf und sah an der Hauswand entlang. »Das wird ewig dauern.«
»Logisch«, echote ich. »Kann nicht jemand die Glasscherben behexen und davonschweben lassen oder so?«
Brynne verdrehte die Augen. »Du bist eine Idiotin.«
»Und wieder dieses Wort«, murmelte ich und sie lachte. Die Mülltonne war fast voll. Charles packte den Griff und rief: »Ich kipp das Zeug in den Brunnen und bringe die Tonne gleich wieder.« River hatte einen alten Brunnen, der ausgetrocknet war. Wir kippten unseren ganzen Müll hinein und verbrannten ihn dort. Zurzeit war der Schacht etwa halb voll. River kam zurück und sah ziemlich mutlos aus. »Wir haben ein paar Sperrholzplatten in der Scheune, mit denen wir einige Fenster vernageln können, aber Daniel und Reyn fahren zum Baustoffhandel, um mehr zu holen. Ich schätze, ich werde eine Glaserei kommen lassen müssen, um all die Fenster zu ersetzen. Wie soll ich das bloß erklären?« Sie strich sich eine silberne Locke aus der Stirn und hinterließ dort einen feinen Schmutzstreifen.
»Ein wissenschaftliches Experiment, das schiefgegangen ist?«, schlug Brynne vor. »Oder eine Verbindungsparty?« »Mal im Ernst, was ist eigentlich passiert?«, fragte ich. River seufzte. »Wir haben im Wohnzimmer einen Zirkel abgehalten. Wir wollten versuchen, ein größeres Bild zu bekommen, draußen in der Welt ein Muster der Magie zu erkennen. Es hat gut geklappt – wir waren sehr stark, sehr machtvoll. Und gerade als etwas Form anzunehmen begann -« Sie runzelte die Stirn, als versuchte sie sich zu erinnern. »Ging plötzlich etwas schief. Ich kann nicht einmal sagen, was es war, aber wir haben uns angesehen und alle dieselbe Bedrohung gespürt. Ich wollte soeben vorschlagen, dass wir den Zirkel aufheben, als alle Fenster herausflogen, nicht nur die im Wohnzimmer. Aber drinnen ist alles unberührt geblieben.«
»Das ist wirklich gruselig.« Ich war verlegen, weil ich das Gefühl nicht loswurde, dass ich das Unheil angelockt hatte. »Das ist noch untertrieben«, bemerkte River.
»Okay, River, brauchst du noch etwas außer einer Tonne Sperrholz?«, mischte sich Daniel ein, der mit den Schlüsseln des Trucks herumklimperte. Reyn war bei ihm, aber er wirkte ernst und verschlossen - ganz anders als bei unserem Ausritt und dem Schwertkampf-Training.
»Wer ist denn das?« Brynne hielt sich schützend eine Hand über die Augen und spähte in die Auffahrt, die zum kiesbestreuten Parkplatz führte.
Ich schaute in die Richtung, in die sie zeigte, und entdeckte einen großen, zottig aussehenden Typen, der aufs Haus zuging, eine Tasche über der Schulter wie ein Landstreicher.
»Wieso ...« River verstummte. Sie machte große Augen und ihr Unterkiefer klappte herunter.
»Das ist doch ...«, begann Daniel.
Der große Mann sah uns auf dem Hof stehen und kam auf uns zu. »Wie ist sein derzeitiger Name?«, fragte River. Daniel schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, sagte er halblaut. »Wir haben uns seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.«
Ich hörte, wie Reyn hinter mir scharf Luft holte. Sein Gesicht wirkte wie eingefroren und die Augen waren verkniffen. Seine Brust hob und senkte sich hastig, als er den Fremden ansah.
Was war hier los?
River drückte mir ihre Handschuhe in die Hand und stürzte sich auf den Mann. »Tesoro!«, rief sie und schlang ihm die Arme um den Hals.
Liebling! Also gut, vielleicht war er eine von ihren
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