Entfesselt
verlorenen Seelen und kam zurück für einen Auffrischungskurs. Aus der Nähe betrachtet sah er wirklich aus wie jemand, der eine Reha nötig hatte: Seine Kleidung war zerlumpt, er wirkte ausgemergelt und eine Dusche konnte auch nicht schaden. Sein Gesicht war hart und seine Augen so ausdruckslos, als hätte er furchtbare Dinge gesehen und sie nie verwunden. Sie vielleicht sogar verursacht. Ich schauderte und war nur froh, dass ich im Schutz der Gruppe stand und diesem Typen nicht nachts in einer dunklen Gasse begegnet war.
Der Mann erwiderte die Umarmung, allerdings so zögerlich, als täten ihm die Rippen weh. Dann befreite er sich und grinste River schief an, aber ich konnte sogar aus fünf Metern Entfernung sehen, dass das Lächeln seine Augen nicht erreichte.
Er hielt River auf Armeslänge, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen.
»Joshua« , stellte er sich vor.
»Joshua«, wiederholte River. »Meine Güte. Ich bin so froh, dich zu sehen.« Sie drückte ihn noch einmal. »Komm, Caro.« Entschlossen führte sie ihn auf uns zu. Er folgte ihr langsam und sein Blick huschte über uns hinweg. Doch plötzlich blieb er so abrupt stehen, dass River, die seine Hand hielt, zurückgerissen wurde.
Ich folgte seinem Blick - er starrte Reyn an. Ich musste feststellen, dass sich die beiden im Moment erstaunlich ähnelten: Zornesröte im Gesicht, die Augen verkniffen und böse, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt.
»Oh«, sagte River und ihr Ausatmen klang wie ein Seufzer. »Mir scheint, ihr beide kennt euch bereits?«
Wie sich herausstellte, war Joshua der dritte Brummbär in Rivers Brüdersammlung. War sie denn die Einzige, die etwas Nettigkeit geerbt hatte?
Unser Abendbrottisch war gut besetzt, aber es war keine lustige Runde. Die Gespräche beschränkten sich auf das Nötigste: Bitte das Salz, was machen deine Schnittwunden und so etwas. Zu dieser Jahreszeit war es beim Abendessen immer schon dunkel, aber heute konnte man Platzangst kriegen, weil alle Fenster vernagelt waren; die großen hässlichen Sperrholzplatten verschlossen jede Fensteröffnung und an den Rändern kroch die Abendkälte herein. Solis hatte Feuer in den Kaminen gemacht, weil die Heizung allein es nicht schaffte.
River, Daniel und Ott schienen sich zu freuen, dass Joshua gekommen war, aber sie waren offenbar auch etwas geschockt. Ich hatte keine Ahnung, ob es an der Tatsache lag, dass er da war, oder an seinem Äußeren. Jedenfalls behandelten sie ihn so vorsichtig, als wäre er irgendwie verletzt. Joshua selbst wirkte angespannt und schien sich unwohl zu fühlen. Er erinnerte mich sehr an Reyn; im Herzen wild und besser draußen in Freiheit aufgehoben. Klingt nach dem perfekten Freund, oder? Ein Typ, der nicht sesshaft werden kann? Oh, Hilfe.
Apropos Reyn - er und Josh hatten sich nach dem ersten wütenden Blick draußen nicht mehr angesehen. Sie saßen so weit voneinander entfernt am Tisch wie nur möglich und taten so als würde der andere nicht existieren. Seeehr interessant. Sehr interessant war auch, wie Brynne Joshua betrachtete.
War Daniel nicht mehr angesagt? War Brynne so selbstzerstörerisch? Sogar jemand, der so ahnungslos war wie ich, konnte erkennen, dass Joshua ein noch mieserer Kandidat für eine romantische Beziehung war als Reyn.
Während des Essens setzte sich River aufrechter hin und sagte in die Runde: »Reyn, du und Joshua habt euch vorhin offenbar wiedererkannt. Was ist zwischen euch vorgefallen?«
Alle horchten auf, sahen die beiden an und hörten auf zu kauen, um bloß nichts zu verpassen.
Joshua erwiderte nichts. Er starrte nur auf seinen Teller und schnitt sein Fleisch in immer kleinere Stücke, als wäre es die Leber seines Feindes.
Reyn warf ihm einen kurzen Blick zu, was schon ausreichte, um sein Gesicht zu verdüstern. Aber er reagierte nur mit einem Schulterzucken und dann murmelte er etwas, das keiner verstand. Er würde uns nichts sagen. Gott, Männer sind so faszinierend 'und geheimnisvoll! Das war ein Riesenspaß. Ich nahm mir vor, mich niemals aus Versehen zwischen die beiden zu stellen - falls sie plötzlich beschlossen, einander grundlos umzubringen. Oder aus einem Grund, den wir nicht kannten.
»Joshua, was führt dich nach River's Edge?« Brynnes Stimme klang gelassen und klar und sie sah ihn erwartungsvoll an.
Die Frage erschreckte Joshua so sehr, dass er sie tatsächlich ansah. Von den vier Geschwistern war er derjenige, der
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