Entfesselt
weil er gerade vor einem der unteren Regale hockte. Er zog ein dickes Buch heraus, blätterte ein wenig darin herum und setzte sich dann mir gegenüber an den Tisch.
»Ist das dein Ernst?«, fragte ich. »Du willst dich da hinsetzen und so tun, als würdest du lesen? Und ich soll das kein bisschen verdächtig finden?«
Sein Blick hätte jeden anderen bestimmt hart getroffen, aber in dieser Beziehung war ich so dickfellig wie ein Nashorn. »River hat schon gesagt, dass du anderen gern etwas vormachst.«
»Was? Hat sie nicht! Außerdem tu ich das nicht!« Natürlich tat ich es. Ich machte praktisch dauernd anderen etwas vor, aber ich konnte nicht fassen, dass River so etwas herumerzählte. »Ottavio sagt, dass du so frech und nervig bist wie ein kläffender kleiner Chihuahua.«
Ich sah rot. Zum einen sind Chihuahuas total süß und ich finde, dass sie in unserer modernen Gesellschaft ganz zu Unrecht in Verruf geraten sind. »Dazu kann ich nur sagen, dass Ottavio ein eingebildeter Schnösel ist, womit wir wohl quitt sind. Und verschone mich bitte mit Daniels Perlen der Weisheit.« Joshua schlug Ashers Buch über Kräuterkunde auf und fing an zu lesen. Ich glaubte keine Sekunde, dass er wirklich nur zum Lesen gekommen war, aber ich holte tief Luft und konzentrierte mich erneut auf meinen Text über Rubine. Wir beide schauten auf, als Brynne mit dem Staubsauger im Schlepp an der offenen Tür vorbeikam, aber nur ich sah, wie sie sich noch einmal zurücklehnte, ihr Schmachtgesicht aufsetzte und eine Hand schüttelte, als wäre Joshua ein zu heißer Typ. Dann drückte sie sich die Hand an die Stirn und verschwand außer Sicht, indem sie so tat, als würde sie in Ohnmacht fallen. Daniel war offensichtlich abgemeldet, wenn ich auch keine Ahnung hatte, was sie in Joshua sah. Seine hervorstechendsten Merkmale waren genau die, die ich bei Reyn am wenigsten mochte.
Apropos. »Woher kennst du Reyn?«, fragte ich.
Die Farben in seinen Augen waren wie ... Öl auf Wasser, verschwommen und nicht zu definieren, Grün und Braun und ein tiefes Blaugrau. Irgendwie unheimlich und längst nicht so faszinierend wie zum Beispiel tiefgoldene Augen.
»Woher kennst du ihn?«, konterte er mit einer Gegenfrage.
»Sein Vater hat meine Familie umgebracht und unsere Burg niedergebrannt«, antwortete ich gleichmütig. »Meine Mutter hat seinen Bruder getötet. Außerdem war sie beteiligt am Tod seines Vaters, seiner restlichen Brüder und sieben weiterer Männer. Und jetzt bist du dran.«
Verblüffung blitzte in seinen Augen auf und er sah mich prüfend an. Ich hielt seinem Blick stand, obwohl ich unwillkürlich schneller atmete und auch mein Herz losraste - wie immer, wenn ich auch nur ansatzweise daran dachte, was meiner Familie geschehen war. Aber ich hatte Joshua schockieren wollen - ein paar Dinge klarstellen.
»Reyn und ich standen bei ein paar Schlachten ... auf verschiedenen Seiten«, sagte Joshua langsam. »Ich war Söldner, genau wie er.«
Oh, ein Söldner also. Ein Mietsoldat. Warum überraschte mich das nicht?
»Moment mal. Verstehe ich das richtig?«, fragte ich. »Ihr beide habt für Geld gekämpft, habt Schlachten geschlagen, die nicht eure eigenen waren, und das auf verschiedenen Seiten; und jetzt, eine Ewigkeit später, hasst ihr euch immer noch? Das war doch nicht mal euer Krieg, in dem ihr eure Familien verteidigt habt oder so. Ihr wart nur wegen des Geldes da. Aber du bist im Recht und er hat sich schuldig gemacht? Und umgekehrt?« Joshuas Miene versteinerte sich.
»Mein Gott, ihr seid solche Schwachköpfe.« Ich rieb mir die Augen und strich mir den herausgewachsenen Pony aus der Stirn. »Solche Idioten. Sprich mich bloß nicht noch mal an. Mein Gott.« Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder auf mein Buch, obwohl mir die Buchstaben vor den Augen verschwammen, weil ich vor lauter Ärger dauernd blinzeln musste.
Joshua rutschte auf seinem Stuhl herum, holte sich ein anderes Buch und verbrachte die nächsten Minuten damit, mich anzustarren. Aber ich beachtete ihn nicht. Stattdessen notierte ich mir ein paar Formeln für Kristall-Schutzzauber und machte eine Liste mit Kristallen, von denen ich hoffte, dass wir sie im Lager hatten.
Ich fand einen langen Abschnitt über den Mondstein, den ich als »meinen« Stein betrachtete. Er war auch der Stein meiner Mutter gewesen - vielleicht sogar schon seit Jahrhunderten unser Familienstein. Noch etwas, das ich nie
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