Entfesselte Energien (Band 1)
möchte mich so gerne ändern und so werden, wie er mich haben will, wenn ich nur wüsste, wie ich das anfangen soll.“
„ Aber Tess, einfach das tun, was er von dir verlangt!“
Tess stöhnte schwer auf. „O Gott nie! Nie!! – Lieber gleich sterben!“
Lore erschrak, sie strich mit ihrer mütterlichen Hand über die kleinen geballten Fäuste der Freundin. „Nicht gleich sterben, Lieb du! Wenns auch schwer ist, wir wollen’s schon zusammen lösen. Lass uns mal …“ sie lauschte auf eine schlagende Uhr und stand schnell auf. „O, schon so spät? Ich muss jetzt gehen.“
„ O nein, jetzt noch nicht, Lore!“ Tess sprang fast entsetzt auf und hielt die Freundin mit Gewalt fest. Es entstand eine kleine Rangelei. Tess griff blindlings zu und hatte plötzlich etwas Dunkles, Wogendes in den Händen, das sich wie eine Flut über sie ergoss. Beide schrien auf, die eine vor Ungeduld, die andere vor maßlosem Erstaunen.
„ O Lore, solche Haare habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Wo hast du sie nur immer versteckt? Wie wundervoll, du!“
„ Lass, ich muss mich schnell wieder aufkämmen!“
„ Ach, Lore. Lass mich das einmal tun!“ Mit einem wahren Entzücken wühlte Tess in diesen dunklen, meterlangen Wogen.
„ Aber jetzt gib mir den Kamm. Liebe! Ich muss gleich heim. Mein Vater hat Gäste geladen heut’ Abend, die Forstleute aus der Umgegend kommen all zu ihm.“
„ Musst du dabei sein?“
„ Ach, ich muss Väterle doch den Tisch besorge .“ Lore kam unwillkürlich ins Schwäbeln, als sie von ihrem Heim sprach.
„ Erzähl mehr von deinem Zuhause!“, bat Tess und bekam einen roten Kopf.
„ Nu, ich muss alles herrichte und schnell noch ein paar Kräpfli backe. – Leb wohl, gut Lieb !“
„ Lore!!“
„ Nu, auf morge doch !“
Tess ließ die Hand endlich los, blieb stehen, wo sie stand, und sah noch lange nach der Türe, die sich hinter der Freundin geschlossen hatte. Kopfschüttelnd ging sie endlich zum Sofa und setzte sich wieder dahin, wo sie eben neben der Freundin gesessen hatte.
Was war das?? Habe ich denn geträumt? – Dass ich auf einem hohen Thron gesessen habe bis heute – bis eben? Und dass mich die schlichte Oberförstertochter, dies gute Kind, heruntergestoßen hat? Tess fasste sich an die Stirne und schüttelte langsam den Kopf. Kein Traum war’s, es ist wahr und wahrhaftig geschehen. Die, die ich immer verachtete – die Arme, die mir leidtat, so oft ich sie sah, ist meine Lehrmeisterin geworden in der Schule des Glücks, in der Schule des Lebens. Wie klein und arm stand ich vor ihr! Obwohl sie nur das eine hat und ich so viel! Aber das eine ist der rechte Weg, ist die Natur, ist die Vollkommenheit. Wenn sie einst – wer weiß, wie bald – in ihres Gatten Armen liegt, wenn sie ihr Kind an den Busen drückt. – Tess zuckte jäh zusammen. Nie werde ich einen Mann – ein Kind in den Armen halten, als seliges Eigen. Ich kann mir’s nicht vorstellen. Es ist unmöglich.
An diesem Abend fluchte Tess ihrem Geschick, ihrer Klugheit, ihren Kenntnissen, ihren Sportsgeist, ihren gesellschaftlichen Triumphen. Alle Hoffnungen, aller Lebensmut zerbrach ihr unter den Händen.
Nach so trübem Abend ist der Morgen oft bezaubernd sch ön. Als Tess aufstand, schien ihr die Sonne in die Kammer, aber die Luft war noch kühl und voll Verheißungen. Sie wusch sich die Augen aus und machte ihre Morgengymnastik, tief die köstliche Morgenluft mit all ihren Stimmungen und Geheimnissen einatmend. Erst dann wusch sie sich und während des Waschens fand sie den Fehler in ihrer Analysenrechnung, nach dem sie am Abend lange gesucht hatte. Unterwegs wurde sie von vielen Kameraden voll Hochachtung und Verehrung gegrüßt und im Institut reichte ihr Dr. Riemenschneider, dem sie in den Weg lief, lächelnd die Hand, was er so noch nie getan hatte. Alles war wieder gut und die grauen Gedanken an die Zukunft waren verflogen. Unsinn, dass sie allein ausgeschlossen sein sollte von dem Glück der Frauen. Aber darum konnte man doch erst einmal etwas Gründliches lernen.
Sonnabend war immer ein guter Tag: Philosophie bei Zöllner, da schlief man sich noch ein wenig aus. Dann die Vorlesung bei Riemenschneider; alle Tore des Inneren öffneten sich, ein wahres Fest des Geistes war diese Vorlesung. Viel wirkte da zusammen; die hohe Gestalt, die Stimme, die immer an ein Cello erinnerte, der Vortrag, so klar und ‘‘voll urkräftigen Behagens’’, das ganze Wesen so ruhig und sympathisch!
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