Entfesselte Energien (Band 1)
Armen das Kind in die Höhe und trug es in die Kammer nebenan, wo sie’s mit Kleidern und Schuhen einfach ins Bett packte. „ So! Nu schlaf e schtickele !“ Sie strich ihr sanft über Stirn und Wangen, bis Tess wirklich einschlief. Dann schlich sie auf Zehen hinüber, nahm den Brief auf, zauderte ein Weilchen, wurde ein bisschen rot und – las ihn:
Als ich dir deinen Namen gab, Marie-Therese, dachte ich, dass du uns einmal Freude und Ehre ins Haus bringen würdest. O, wie bitter habe ich mich da getäuscht! Schmach und Schande hast du über deine Familie gebracht; ungehorsam und ungebärdig war’st du von Jugend auf, stets das Gegenteil tatest du von dem, was dein Vater gern wollte. Hold und sittsam solltest du werden, getreu den großen Traditionen unseres Hauses folgend und – eine Tänzerin, ein Sportgirl, ein Blaustrumpf bist du geworden. Ach, mein Kind! Mein Kind! Womit hab ich’s verdient, dass du solch Schmach über unser Haus bringst!
Hast du denn gar nichts begriffen: Graf R-S, einer der ersten Kavaliere des Landes. Erbfolger mit höchsten, glänzenden Ahnen, hat um dich angehalten und du – es ist ganz unfassbar – rennst heimlich fort und lässt dich von dem Jägerburschen – Seite an Seite!! – im Auto fahren! Schmach! Oh Schmach! Entsetzliche Schmach!
Die gute Frau legte den Brief weg und atmete schwer auf. So’n Vater! Nein, so’n Vater! – Ach das arme Kind! Sie deckte den Brief zu und rannte in die Küche. Ne gute Tasse Kaffee muss ich ihr mal koche.
Dann kam Tess in die Küche, ein bisschen bleich, ein bisschen übernächtig, aber sie lächelte schon wieder, wenn auch nur ganz leicht.
„ Gott, Kindle, sie müsse noch ein bische schlafe! – Aber nu trinke Se erst ma n schlückle Kaffee!“
„ Gern, Tante Amelie! O, wie gern!“ Tess trank und reichte die feine Tasse dankend zurück. „Wie kann man sich nur so haben“, lächelte sie nachsichtig über sich selbst.
„ Nu, über solchen Brief! Ach, ich mein über solche Sach’n!“ Die Tante wurde ein bisschen rot, und Tess lachte leise vor sich hin, ging aber doch hinüber und schloss den Brief fort. Dann nahm sie den anderen Brief in die Hand, sah ihn voll Mitleid an, als wäre es der Schreiber selbst, und riss ihn kurzerhand auf:
Ach, Fräulein Tess, wie hat mich der Graf – das war der, der uns so in den Wagen glotzte – gemein beleidigt! Wenn ich’s könnte, wenn ich das Fechten gelernt hätte, würde ich ihn fordern. Aber so muss man das alles in sich hineinfressen. Und gekündigt hat mir der Herr Baron, zum nächsten Ersten soll ich gehen. Aber ich gehe gleich, keinen Tag mehr bleibe ich in dem Haus. Freilich, wo ich hingehe und was ich jetzt machen soll, weiß ich noch nicht. Bei meinem Onkel darf ich mich so nicht sehen lassen.
Hochachtungsvoll
Franz
Tess sprang auf, die Falte zwischen den Brauen und die Augen wieder voll Glanz. Sie konnte helfen – musste helfen, das gab ihr alle Kraft, alle Lebensgeister zurück. Was du machen sollst? Hierher sollst du! Chemie lernen! Ein Kerl werden! – Wie wir das machen, weiß ich noch nicht. Aber es wird gemacht, wenn du nur erst mal hier bist.
Tess setzte sich hin, um einen Brief zu schreiben, überlegte es sich aber sofort anders. Ein Telegramm ist besser! Wie sie ging und stand, rannte sie fort zum Postamt und drahtete ihm die Worte: ‘‘Komm nur hierher! Alles wird gut.’’
Das bedeutete vollkommenen Bruch mit dem Elternhaus, falls sie von dem Telegramm erfuhren. Aber es war gleich; früher oder später musste es doch so kommen, jetzt war sie gerade in der Stimmung dazu.
Einige Monate waren vergangen, das neue Semester hatte begonnen.
„ Jetzt hast du alles erreicht, worum du heiß gekämpft hast“, sagte Tessis Freundin.
„ Alles nicht, Lore!“
Lore Sehlenbried zählte an den Fingern auf: Riemenschneider habilitiert! “
Ein Freudenstrahl verklärte Thesis Gesicht – für einen Augenblick!
„ Glänzend ist das gelungen! Einen fabelhaften Zulauf hat er. Beinahe hat er schon den Rang des Herrn Geheimrat erreicht. – Er soll übrigens an einem großen Problem arbeiten.“
„ Atomstruktur meinst du? Weißt du Näheres?“
„ Nur was so durchsickert. – Zweitens: Franz Sellentin, den ‘‘blonden Franz’’ hierher gebracht! Was willst du mehr? Er ist gekommen, er verdient, er studiert, er fühlt sich glänzend. Was fehlt dir eigentlich noch, Tess? Müsstest du jetzt nicht
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