Entfesselte Energien (Band 1)
viel höhere Luftsprünge machen als damals, wo es für uns arme Mädchen oft noch recht finster aussah im Hörsaal und Labor?“
Tess schüttelte den Kopf und fuhr plötzlich aus ihrer Erstarrung auf.
„ Du stöhnst ja so, Tess? Beinahe muss ich lachen. Sind dir’s der Liebhaber zu viele? Alle tragen dich auf Händen.“
„ Lore, wenn du alles wüsstest“, sagte Tess sehr ernst, „würdest du das nicht sagen.“
„ Weiß ich etwas noch nicht aus deinem Leben?“
Statt zu antworten, öffnete Tess nachdenklich eine der Schubladen ihres Schreibtisches und zog den letzten Brief ihres Vaters heraus.
Ihre Freundin las, die Augen hasteten ü ber die Zeilen. Entsetzt schüttelte sie den Kopf und las noch einmal, langsam und eingehend. Als sie den Brief zurückreichte, blickte sie Tess forschend an. „Ist das der Graf, von dem du mir erzähltest?“
„ Derselbe.“
„ Du, das ist nicht möglich!“
„ Was?“
„ Dass du dem einen Korb gegeben hast.“
„ Zu einem Korb ist es gar nicht gekommen.“
„ Du bist fortgelaufen? Warum nur?“
„ Kennst du den Grafen?“
„ Aber ja! Er ist im Schwabenland – nein, im ganzen Land eine bekannte Persönlichkeit. Sehr beliebt und hoch geachtet.“
„ Hast du ihn mal gesehen??“
„ Na, er ist kein Adonis.“
„ Aber ein Genie??“
„ Was brauchst du einen schönen Mann! Einen klugen Mann! Wenn es nur …“
„ Nur?“
„ Der Richtige ist!“
„ Glaubst du, dass Graf R-S es ist für mich?“
Lore nickte , während sie nachdenklich den Brief zurückgab. Wenn dein Vater es so wollte. Gerade dein Vater! Ich habe sehr große Hochachtung vor deinem Vater. Er war damals der Einzige, der den Mut hatte, die Wahrheit zu sagen. In jeder Hinsicht, egal wer da Stand. Es ging um seine Existenz – nein, es ging einmal um Hals und Kragen. Aber die Wahrheit ging ihm über alles.“
Tess senkte den Kopf tief herab. Lange sah sie vor sich nieder. Als sie das Antlitz wieder hob, war es ganz verändert, und die Stimme war dunkler geworden. „Lore kann ich einen Mann heiraten, der mir leidtut?“
„ Was heißt leidtun! Das bisschen Männlichkeit – oder wie mir’s früher erschien: Heldentum – haben wir bald durchschaut. Ich kenne so viele Männer, aber darin sind sich alle gleich; sie schauen zu uns auf, sie können gar nicht ohne uns sein. Es zieht sie mit unwiderstehlicher Gewalt zu uns, weil sie im tiefsten Inneren fühlen, dass sie bei uns wiederfinden, was sie verloren haben, das Köstlichste, was sie verloren haben in ihrem Leben: die Arme der Mutter. Hieran – sie breitete die Arme aus – sich schmiegen können, nur ‘‘ein einiges Mal’’, aber immer wieder ‘‘ein einziges Mal’’, das ist das Sehnen jedes Mannes.“
Lore hatte sich ganz in Eifer geredet, weit über die Freundin in die Ferne blickend, mit einem feu chten Glanz in den Augen, ließ sie die erhobenen Arme schmerzlich sinken, glitt unmerklich in einen Sessel und verbarg das Gesicht in den Händen.
Mit wachsendem Staunen hatte ihr Tess zugehört. Jetzt sank sie vor ihr in die Knie und legte wie ein Kind ihren Kopf in der älteren Freundin’s Schoß. Zärtlich strich Lore über die kurzen blonden Locken des Wildfangs, der jetzt so zahm geworden war. Als Lore die Augen öffnete und auf die kleine Freundin nieder sah, entdeckte sie Tränen in den strahlendblauen Augen, die oft so wirbelnd flammen konnten. Lange sprach niemand ein Wort. Endlich erhob sich Tess und zog die Freundin mit sich fort auf das Sofa in die dunkelste Ecke des Zimmers.
„ Lore, du hast mir einen Blick eröffnet in eine Welt, die mir unbekannt geblieben ist bis auf den heutigen Tag. Vielleicht hätte ich sie ohne dich überhaupt nie entdeckt. Jetzt sehe ich sie vor mir, aber es wird mir nichts helfen, sie wird mir ewig unerreichbar bleiben.“
„ Ach Tess, wie du nur sprichst! Du brauchst ja nur zu wollen, so hast du sie.“
„ Nein. Lore, das ist ganz anders. Wie soll ich dir das sagen! Freilich machen die Herren es mir sehr leicht, meinen wenigstens, dass sie mir’s leicht machen, aber wenn ich mal zugreife, zerrinnt alles unter meinen Händen oder – es wird ein Skandal daraus. Dass ich einmal Mutter werden könnte, ist mir ganz unausdenkbar. Du wirst’s mir nicht glauben, aber ich habe meinen Vater, soweit ich zurückdenken kann, stets viel mehr geliebt, ja viel besser verstanden als die Mutter, obwohl er so hart zu mir war. Deswegen leide ich auch so furchtbar unter seinem Groll. Ich
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