Entfesselte Energien (Band 1)
Keiner, der ihn nicht vergötterte. Mädchen wie Jungs, da war kein Unterschied. Als er einmal nach kurzer Krankheit wieder im Hörsaal erschien – alle Zuhörer waren zur Stelle, ob auch niemand um seine Genesung wusste – da wurde er mit solch ohrenbetäubendem Getrampel empfangen, dass er minutenlang kein Wort herausbrachte.
Heute trug er über das Energieprinzip vor. Dieses Thema schien ihm ganz besonders zu liegen, irgendwie rührte es ihm an seine tiefsten S eiten. Er sprach gewaltig und wuchs über sich selbst hinaus – wenn das noch möglich war! Seine Ausführungen gipfelten in einem ungeheuerlichen Protest gegen den großen Clausius und sein trostloses Entropiegesetz, nach dem alle Energie des Weltalls allmählich in Form von Strahlung von den wärmeren Körpern auf die Kälteren überginge, wodurch sie zwar absolut genommen noch weiter bestände, aber praktisch nicht mehr ausnutzbar wäre, dem Menschengeschlecht also verloren ginge. Gegen diesen Satz vom Weltentode, dem alle großen Naturforscher seiner Zeit sich beugten, sprang er mutig auf den Plan, da war ihm jede Waffe recht: intuitives Gefühl, logische Überlegung und naturwissenschaftliche Tatsachen. Von den alten Indern sprach er, von ihrem Pralaya (Weltennacht) und dem Manvantara (Weltentag), von der Götterdämmerung der Germanen, von ‘‘Weltvernichtung’’ und ‘‘Welterneuung’’. Dann von dem machtvollen Argument Schopenhauers: Ohne Frage besteht die Welt schon seit ewigen Zeiten, sie hatte also schon sämtliche Möglichkeiten zur Verfügung und unbegrenzte Zeiten zum sich auswirken derselben, sie konnte also schon längst einmal zugrunde gehen. Wenn sie gleichwohl heute noch existiert in ihrer unerschöpflichen Fülle von Kräften und Lebensäußerungen, so ist kein Grund einzusehen, warum sie jetzt noch einmal ihre Energie verlieren sollte.
Aber das war alles nur Vorpostengeplänkel, nach dieser Einleitung ging Riemenschneider über zu seinem Hauptschlag, das war eine eingehende Betrachtung der ‘‘schwarzen Löchern’’, derjenigen also, die von der Clausiusschen Entropie gewissermaßen schon erfasst waren. Er wies nach, dass im Inneren dieser kalten, dunklen Massen infolge der nach Millionen von Atmosphären sich beziffernden Drucke die Materie sich in einem Zustand so enormer Spannung befindet, die Atome sich zu solcher Dichte und Kompliziertheit zusammengezogen haben, dass bei einer Sprengung der äußeren Schale, wie sie durch den Anprall eines zweiten Weltenkörpers eintreten kann, die schweren Atome aus dem Inneren wie ein überhitzter Dampfkessel ‘‘explodieren’’ müsste, aber implodieren in der tief greifenden Art der radioaktiven Stoffe. Und so muss die in Jahrmillionen und – Milliarden aufgespeicherte ‘‘entropische’’ Energie mit einem Mal wieder frei werden in Form von irgendwelcher Strahlung (Höhenstrahlen?) und damit der uns bekannte Prozess der Energieentfaltung wieder seinen Anfang nehmen. Der Urknall, die ‘‘Welterneuerung’’, das Manvantara, der ‘‘Tag Bramas’’ bricht an.
Still ging der Dozent nach diesen Worten hinaus, kein Fuß regte sich heute zu dem Abschiedsgetrampel, da s sonst immer sehr vernehmlich das Auditorium Riemenschneiders erschütterte, wenn er seine Vorlesung beschloss. Man ehrte ihn heute durch eine Minute stillen Nachdenkens über das Gehörte – Unerhörte.
Auf dem Flur rief Tess ihren Freund aus der Heimat leise zu. Franz Sellentin war noch ganz benommen, es dauerte eine Weile, bis er sich in der alltäglichen Umgebung zurechtfand.
„ Ich wollte ihn noch mal was fragen“, sagte er nachdenklich, ohne der Freundin einen Blick zu gönnen.
„ Wir haben ja gleich noch Praktikum bei ihm. – Ach so, das steht noch nicht auf deinem Plan. Beeil dich, Franz, dass du beikommst!“
„ O, ich lerne Tag und Nacht Chemie, selbst im Bad und im Wald hab ich immer den Rüdorff-Lüpke bei mir.“
„ Du!“, raunte Tess - noch leiser, „komm nachher zu mir, ich muss dich etwas fragen.“
Franz sah sie an , errötet ein wenig und nickte ihr freudig zu.
Das Praktikum bei Riemenschneider war etwas lockererer Art, nur 10 Teilnehmer, alles reine Chemiker und ältere Semester. Mancher mochte den Lehrer an Jahren schon beinahe erreichen. Man saß auf Stühlen. Riemenschneider mitten unter ihnen. Der Ton war ungezwungen, beinahe kameradschaftlich, wenn auch die grenzenlose Hochachtung vor ‘‘Ihm’’ einen gewissem Abstand noch immer aufrechterhielt.
„
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