Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfesselte Energien (Band 1)

Entfesselte Energien (Band 1)

Titel: Entfesselte Energien (Band 1) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Collmann
Vom Netzwerk:
er ihr die Hand.
    „ Lange hätte ich’s auch nicht mehr ausgehalten“, raunte sie ihm zu, ehe ihr Bruder herankam.
    „ Es kommt alles in Ordnung“, sagte er mit Bedeutung.
    Noch einmal drückte ihm Tess innig die Hand.
     
    Und es kam in Ordnung; es war noch ein Verwandter da aus einer Seitenlinie des viel verzweigten Hauses Rechberg, ein tüchtiger Landwirt. Man hatte an ihn nicht mehr gedacht, weil er da oben irgendwo in Mecklenburg auf einer ‘‘kleinen Klitsche’’ saß, die ihm nicht einmal gehörte. Er kam gern, als man ihn telegrafisch herbeirief. Also ließ man Tess fahren. Vielleicht jetzt nicht mehr so ganz ungern.

 
    Teil II
    Berlin
     
     
     
     
     
     
     

9 . Kapitel
     
     
     
     
    Eine Großstadt ist nicht so schön, wenn man es gegen das Schwabenländle in Kauf nehmen muss. Wer noch irgendwo auf dem Land ein Heim hat, sollte nicht in die Stadt ziehen. Aber Tess hatte kein Heim mehr. Auch Tübingen war’s nicht mehr, seit dem Sommerfest unseligen Andenkens. Oder seit jenen Einbrüchen im Institut, die die Gemütlichkeit des Schwabenstädtchens getötet hatten. Aber das lag nun alles weit hinter ihr und kam nie wieder! Wenn man hier in das Straßenleben schaute, wie geborgen fühlte man sich! Wie unendlich sicher! Niemals würde man in diesem vorbeihastenden Menschenstrom einen Bekannten entdecken, nie mit Grüßen, mit Blicken belästigt werden, nie das Stehenbleiben, das knirschende Umdrehen auf dem Absatz, hinter sich hören müssen. In einer Wüste hätte man nicht einsamer, nicht unbeobachteter sein können.
    Ein bisschen beklommen wurde ihr zumute, als sie sich den vornehmen Villen in Dahlem näherte – böse Zungen nennen es auch ‘‘Feudalem’’. Sie hätte doch ein Auto nehmen sollen, zu Fuß kommt man hier nicht an. – O nein! ‘‘Et mihi res, non me rebus subjungere conor.’’ (Vers aus dem Horaz: Und ich versuche mir die Dinge, nicht mich den Dingen zu unterwerfen.) Mögen sie halt sehen, dass ich vom Lande bin! Übrigens bin ich Studentin. – So viel hatte sie in der kurzen Zeit schon gesehen, dass auch in Berlin der Student eine Klasse für sich ist und in seiner besonderen Welt lebt.
    Noch einmal kam der Druck im Herzen über sie, als sie an der hohen, mit Blumen überrankten Gartenpforte klingeln musste und sie einen Diener in rotgoldener Livree mit dezenten Schritten den Kiesweg herankommen sah. Sie blickte zu den Kletterrosen über sich hinauf, aber auch die brachten keine Befreiung, irgendwie passten sie in dieses Bild städtischen Glanzes, irgendwie duckten auch sie sich unter einen Zwang. Warum bin ich nicht doch mit Vetter Leo gefahren! Dann brauchte ich jetzt hier nicht mit Bangen an der Pforte zu stehen. Sie ging neben dem Diener über den knirschenden Kies und sah, dass er ihr Handköfferchen trug. Sie hatte es ihm also übergeben, sie wusste es nicht mehr. Oho! Wo ist denn meine Sicherheit geblieben, auf die ich mir – seit London und Monte Carlo – soviel eingebildet habe? Ah so! Weil ich mich eben in die Seele Franz Serpentins hineinversetzte, kommt mich dies heimliche Beben an. Wie mag er seinen Kram hier geschmissen haben, als er die Koffer ablieferte? Wie hat ihn die Frau des Vetters wohl gemustert? Aber – ich kenne sie ja auch noch nicht! So wird sie auch mich mustern.
    „ Ist mein Vetter – äh – der Herr Major zuhause?“, fragte sie formlos und freundlich den Diener.
    Der Mann in Livree schien aufzuhorchen. Eine Verwandte des Herrn Major! Seine Achtung stieg. Und so leutselig! Sein Herz erwärmte sich. „Nein, Herr Major ist leider noch nicht – vom Dienst zurück.“ Ganz rot war er geworden in dieser aus Hochachtung und Sympathie gemischten Stimmung, die selbst seiner in allen denkbaren Situationen bewährten Sicherheit und Unerschütterlichkeit einen Stoß gab.
    Also bin ich der Ehefrau allein ausgeliefert! Dachte Tess und gab dem Diener, der ihr aus dem Staubmantel geholfen hatte, aus irgendwelchen Analogien heraus ganz unverhüllt ein Geldstück, wie man einem Freund die Zeitung herüberreicht.
    Wieder errötete er, aber ein Blick, der ihm bei Beginn seiner ausgiebigen Verbeugung entfuhr, zeigte der Geberin, dass es ihr in den wenigen Augenblicken gelungen war, eine Bresche in die starre Schablone dieses Bedien steten zu reißen und dass sie sein Herz für immer gewonnen hatte.
    Gut, dass die Frau des Hauses nicht auf sich warten ließ! In diesem überaus vornehmen Empfangssalon würde die Befangenheit, die sich schon wieder

Weitere Kostenlose Bücher