Entfesselte Energien (Band 1)
bereitet hat. – Ah, möchtest du dich vorher noch erfrischen? Ja, und dein Zimmer sehen, davon hatte ich dich vorhin abgehalten. Komm, wir eilen noch eben hinauf!“
Oben warf Tess einen Blick aus dem Fenster. „Überall Grün!“, freute sie sich, sprang zum Waschtisch und war gleich hinter dem Major wieder unten, wo schnell einige Köpfe auseinander fuhren; man hatte über sie geplauscht, aber sicher nur liebevoll, denn man freute sich allerseits.
Bei Tisch war noch eine alte Tante zu begrüßen, eine Rechberg natürlich, unzählige gab es von diesen Seitenzweigen.
„Tante Christa!“
Nun, sie war erträglich; still und ein bisschen melancholisch, sie schien viel durchgemacht zu haben. Dann trat noch ein junges Mädchen ein, Speisen auftragend. Besuch oder Tochter des Haus, das war nicht sogleich zu erkennen. Vorgestellt wurde sie als „Fräulein Luschida Sanirun aus Chile“.
„ Eine Señora!“, lächelte die Majorin.
„ Nein, Señorita!“, verbesserte der Major. „Nicht wahr, Fräulein Luschida?“
Die stille, sanfte Exotin, die bisher verlegen unter sich geblickt hatte, warf dem Major einen dankbar ergebenen Blick zu, nur kurz, dann senkte sie wieder das dunkle Lockenhaupt tief auf ihren Teller.
Nur in dem einen Augenblick hatte Tess sie recht gesehen. Warum war sie so scheu unter den Menschen, die ihr so nett entgegenkamen? Schämte sie sich ihres dunklen Teints, ihrer tiefschwarzen Locken und der Samtgrauen unter den mächtig geschwungenen dunklen Brauen? Tess war einen Augenblick ganz benommen von soviel Schönheit und unverfälschter südländlicher Pracht. Man gab ihr weiter keine Erklärung über den Grund ihres Hierseins und ihres seltsamen Betragens, daraus schloss sie, dass etwas sein müsse, was man vor dem Mädchen selbst nicht erörtern wolle. Dass man sie vorher nicht darauf vorbereitet hatte! Aber man hatte es wohl vergessen, weil soviel anderes Neues die Gedanken in Anspruch genommen hatte. Also beschied sie sich, konnte es aber doch nicht unterlassen, immer einmal wieder nach der neuen Kameradin – denn dass sie das werden würde, war ihr sicher – hinüberzuspähen. Luschida blieb beharrlich unter ihrem niedergelassenen Visier, doch war sie darum nicht unbeteiligt an dem, was gesprochen wurde. Ihre unter den herabwallenden Locken fast verschwundenen Ohren nahmen jeden Laut, jede Stimmung auf und ein lebhaftes Mienenspiel reagierte darauf. Sie sprach nur nicht.
Als dann doch einmal, bloß ganz verstohlen, ein Blick aus den dunklen Augen zu Tess hinüberirrte, hatte diese nur den einen Gedanken: Franz! Was wird er sagen! Mit welcher Wonne werden zwei hellblaue Augen in diese schwarzen Gründe hinabtauchen! Ungeahnte Möglichkeiten verbargen sich hier. Vielleicht! – Aber wo war Franz? Dass sie danach noch nicht gefragt hatte!
„ Hat Franz Sellentin – hm – mein Freund, eigentlich keine Adresse hinterlassen?“ Ohne dass sie es wollte, hatte Tess bei diesen Worten nach der Chilenin hinübergesehen. Zuckte es nicht verräterisch auf in den so unschuldigen Zügen? Und lief über das Bräunliche dieses Teints nicht für einen Moment ein feiner roter Schimmer? Oder wollte sie das nur sehen? – Aber nein, dieses Mädchen hatte wahrscheinlich doch Franz schon kennengelernt. So sehr beschäftigten Tess diese Gedanken, dass sie die Antwort auf ihre Frage darüber beinahe verpasst hätte. Franz hatte noch keine Wohnung, aber er wollte heute Abend kommen.
Dumm! Sehr dumm , dachte Tess. Gerade heute Abend! In schweren Gedanken ging sie nach dem Abendessen auf ihr Zimmer. Wie sollten wir das vereinigen? Unten hörte sie schon, wie der Major den Wagen in Ordnung bringen ließ. Zufällig sah sie auf der Treppe aus einem offenstehenden Fenster nach dem Garten hinunter – gerade kam Franz leicht und froh, gedankenlos froh durch den Garten geschlendert. Mit zwei Sprüngen nahm er die Steintreppe vor der Villa. Herzlich lachen musste sie, als ob er hier zuhause wäre! Ebenso formlos sauste auch sie die Treppe hinunter, um ihn unten noch allein abzufangen. „Franz!!“
„ Ach Tess! Wie herrlich, dass du endlich da bist!“ Franz schien nicht übel Lust zu haben, sie durch den Hausflur zu wirbeln, aber sie schüttelte ihm so stürmisch die Hand und hielt ihn dabei, so wie von ungefähr, mit Aufbietung aller Kraft im nötigen Abstand. Eben kam der Major die Treppe herunter.
„ Mein Freund Franz Sellentin!“ stellte Tess vor.
„ O, wir kennen ihn schon“, lächelte der Major.
Weitere Kostenlose Bücher