Entfesselte Energien (Band 1)
selbst das Richteramt verliehen worden war, der darum auch ganz wunde Punkte berühren durfte. „Der Obere muss der Strengere, aber auch ein Vorbild sein, er darf nicht seinen – hm – irdischen Trieben nachgeben.“ Tess sah auf. „Man darf auch nicht – in die Arme – in die Backen kneifen!“ Dies wurde böse herausgepoltert. „Noch einen Schritt weiter und“ – leiser werdend – „es kommt zum – zur Sünde!“
Tess spürte, wie sich ihre Fäuste ballten, wie ihr die Glut ins Gesicht sprang. Schon war sie auf dem Punkt, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, aber – dieses jongleurmäßige Abwiegeln in den Mienen des Verwandlungskünstlers da vor ihr rief sie noch beizeiten zurück zu ihrer Rolle. „Er will mich ausräuchern aus meinem Versteck, beinah hätte ers fertig gebracht.“ So löschte sie ihre Glut wieder aus, ließ ihren Blick verächtlich werden und wandte ihn ab in die Zimmerecke.
Ihr Gegenüber zog ein großes weißes Tuch aus tiefen Falten und wischte sich die Stirne ab. Ganz schwieriger Gegner! Sagte er bei sich und dachte auf seine letzten und höchsten Trümpfe. „Das Gut bedarf einer starken Hand, die hier wieder Ordnung schafft und einmal mit eisernem Besen alles auskehrt.“
Tess zuckte leichthin die Achseln.
„ O, ich wüsste schon eine solche Hand – und auch den Verstand, der diese Hand lenken würde. Gar nicht weit brauchte ich zu gehen.“ Er schielte nach Tessis rechter Hand, die sie nachlässig über die Sessellehne hängen ließ. Diese kleine Hand würde das Szepter schon schwingen können. Tess zog die Hand zurück, als ob sie von Schmutz besudelt würde. „Und der Verstand, der zu dieser Hand gehört, hat mir heute – hm – genug zu schaffen gemacht.“
Pause. – Tess erhob sich und zog mit einer Grimasse ihr Kleid wieder in Ordnung. „Sehr viel Geld müsste man haben. Hochwürden, um hieraus noch etwas zu machen.“ Damit wollte sie die Unterredung als abgeschlossen bezeichnen. Sie ahnte nicht, dass sie ihrem Gegner damit ein neues Stichwort gab, worauf er nur gewartet zu haben schien.
Der Kaplan zog die Augenbrauen geheimnisvoll in die Höhe und winkte diskret und behutsam, sich noch ein Weilchen zu gedulden. Er rückte näher und dämpfte die Stimme bis zum Flüstern, der Zeigefinger hob sich verheißungsvoll. „Ich weiß einen Mann – hier in der Nähe – der will“ – noch leiser – „Geld hergeben zur Sanierung dieses Gutes.“ Und jetzt kam es noch ganz kameradschaftlich. „Unseres Gutes!“
„ So? Wirklich?“ Irgendetwas musste man hier ja sagen.
„ Der Mann ist – alt!“
„ Das soll heißen, er hat keine Hintergedanken“, dachte Tess. Kaum konnte sie ein Lächeln unterdrücken.
„ Aber er stellt eine Bedingung!“ Der Zeigefinger hob sich wieder, diesmal drohend.
„ Welche Bedingung?“ Tess sah scharf auf den Sprecher, ohne die Richtung ihres Gesichts zu ändern, das vorbeischaute.
„ Dass das Gut – von dem Zeitpunkt ab – von einer festen Hand verwaltet wird – von dieser Hand!“ Er griff wie ein Dieb nach Tessis Hand und sah ihr in die Augen. Jetzt gibt’s kein zurück mehr, dachte er. Jetzt hab ich sie!
Tess hielt den Blick stand, doch so, wie ein Naturforscher auf ein giftiges Reptil sieht, das ihn interessiert, vor dem man aber scharf auf der Hut sein muss. Langsam ließ sie die Blicke wieder sinken, als dächte sie über die Sache nach.
Da ließ er die Hand los, näherte sich ihrem Ohr, das er fast mit den Lippen berührte, und hauchte hinein: „Der Mann hat Angst vor dem Tode und wollte sein ganzes Geld darum der Kirche vermachen. – Es sind an die dreißig Mille! – Ich hab ihm gesagt:“ – Jetzt hörte sie tiefes Atmen. – „Die Kirche Gottes braucht kein Geld, aber – wenn sie ein wahrhaft edles Werk tun wollen, retten sie – das Haus – Rechberg-Leudelfingen – vom – Untergang!“ Jedes Wort hämmerte er einzeln in ihre Seele.
O, wie gemein!, dachte Tess. Sie wusste, wen er im Auge hatte; den alten, herzensguten ‘‘Fauser Hans’’, der langsam am Magenkrebs dahinsiechte, auf dessen Ende die Pfaffen der Umgegend schon lange spitzt waren, obwohl er Verwandte hatte, die sein Geld recht gut brauchen konnten. Jetzt werde ich ihm meine Antwort geben. Sie stand auf und flüsterte ihm wie einem Beichtvater ins Ohr: „Ich trage eine Liebe im Herzen.“
„ Eine sündige?“
„ Ich fürchte, die Kirche wird sie sündig nennen.“
„ Wen liebst du?“
„ Einen Professor.“
„ Ist er
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