Entfesselte Energien (Band 1)
„Nun ist die Freude groß?“
„ Nicht ganz klein“, lachte Tess aus vollem Halse. „Wollen wir Franz mitnehmen zu unserem Professor?“
„ Natürlich, gerne! Wenn es ihm Freude macht!“
„ Ach, das ist ja hervorragend! Ich hab ihn noch nicht wieder gesehen.“
Tess freute sich, den schlimmsten Sturm und Drang hatte er doch inzwischen überwunden. Und da oben war jemand – die würde ihm auch die letzten Scharten noch abschleifen. Da Franz vorn neben dem Chauffeur saß, konnte sich Tess hinten mit dem Major ungeniert unterhalten. „Sag mir bitte, Leo, was das für ein Mädchen in eurem Hause ist! Ist sie dauernd bei euch?“
„ Das ist so, liebe Tess: Luschida ist eigentlich Chilenin, war aber mit ihren Eltern hinauf nach San Franzisko gefahren und von dort nach Japan und China. Dort ist nun irgendein Unglück passiert, das Genauere haben wir nie erfahren, sie selbst weiß es auch nicht so genau. Irgendwie ist sie von Vater und Mutter getrennt worden und mittellos in Hamburg angekommen. Von dort haben sie Landsleute auf ihren Wunsch nach Berlin gebracht, wo sie studieren wollte. Durch Vermittlung der iberoamerikanischen Gesellschaft ist sie nun vorübergehend in ein Privathaus – zufällig zu uns – untergekommen, bis ihre Verhältnisse sich geklärt haben.“
„ Was für ein glücklicher Zufall!“, rief Tess überrascht.
„ Magst du sie?“
„ Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, scheint sie ganz in Ordnung zu sein.“
„ Sieh, dann hast du gleich Unterhaltung in unserem Hause. Meine Frau möchte sie auch nicht mehr entbehren.“
„ Und sie studiert?“
„ Ja, sie will Medizin studieren, sobald das Semester wieder anfängt.“
Tess überlegte. „Da werden wir vielleicht in einigen Vorlesungen zusammen sein.“
Das Auto hielt. „Da sind wir!“
Franz sprang im Bogensatz heraus und warf die Stirnlocken zurück, ganz voll Jubel und Freude.
Der Major sah besorgt zu Tess hinüber. „Ist mit dir etwas, liebe Base? Du bist so blass.“
„ Nein, lass nur, Leo! Es ist gleich vorüber.“ Und nun lächelte sie schon wieder ein bisschen, aber das Herz schlug so, dass man es halten musste. „Ich bekomme das manchmal,“ und atmete einmal tief ein, „wenn eine große Überraschung auf mich zukommt.“
Der Vetter führte sie behutsam zur Gartentüre einer schmucken, kleinen Villa . Sie blieb einen Augenblick stehen und ließ ihre Blicke schnell durch den Garten und über alle Fenster wandern. Noch war niemand zu sehen, aber schon das Wandern über alle diese Dinge, die ‘‘Er’’ täglich sah, war stilles Vergnügen für sie. – Ihre abgöttische Anbetung war nicht mehr zu verleugnen, aber war es inzwischen mehr? Nein, dafür hütete sie ihr Geheimnis zu gut: Ich will ja nichts von ihm, ein bisschen lieb haben ist ja nicht verboten!
Franz stand schon an der Pforte, hatte vielleicht schon geklingelt. Auf jetzt! Es musste nun sein. Die Mutter öffnete ihnen, stutzte einen Augenblick – das Misstrauen der Großstadt hatte selbst in dieses gütige Württemberger Gesicht schon seine Spuren eingegraben – aber dann sah sie Tess. Tess erkannte sie gleich und streckte ihr die Hand hin. „ Nu komme Se ma gleich rein !“ Unverfälscht schwäbelte sie noch. Wie das hier in der feudalen Malvenstraße klang! Aus dem dämmerigen Hintergrunde löste sich eine jugendliche Frauengestalt ab: Lore! Wie sie strahlte!
Aber dann hielt Tess sie selbst in den Armen und küsste sie und drückte sie. Als wär’s ein Stück von ‘‘Ihm’’. „Wo ist er?“, hauchte sie ihr ins Ohr.
„ Oben – bei seiner Arbeit.“
„ Immer arbeiten! Immer grübeln!“
„ Nicht? Da können wir nicht gegen an, Tess.“
Aber da regte sich ’s in Tess, dagegen bäumte es sich auf. Mitreißen! Mitstürmen über alle Grenzen! Nicht zurückbleiben bei der Schwärmerei! Am liebsten wäre sie gleich die Treppe hinaufgeeilt – allein – zu ihm! Aber das ging doch nicht, man musste sich erst mit den anderen ganz brav in das Familienzimmer führen lassen.
Ein großer, hoher, viel zu prunkvoller Raum. Aber es war nur der Raum, die Ausstattung war noch dieselbe wie in Tübingen. Urväterhausrat ! Sie hatten den Berliner Raum schon überschwäbelt. Zwei große Familienbilder hingen breit über dem Sofa; der kernige, gemütliche Oberförster, Riemenschneiders Vater, und seine Frau, als Braut. Wenig Kissen auf dem Sofa, keine grellen Farben im ganzen Raum, alles ruhig, gedämpft, behaglich.
„ Es wurde ihnen
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