Entfesselte Energien (Band 1)
diplomatischen Vertretern nicht erwähnt, ja nicht einmal gewusst werden dürfen. England hat für solche Zwecke seine Agenten, ein ganzes Heer von Agenten, in der ganzen Welt verstreut. Wir haben das nicht. Vielleicht, weil wir sie nicht bezahlen können! Vielleicht auch, weil uns das Verständnis dafür noch nicht aufgegangen ist. Oder es fehlt uns an Verbreitungskraft, an Auswanderungswilligen. Der Deutsche ist eben kein Engländer, aber wir müssten Engländer, Franzosen, Russen usw. werden.“
Tess sah den Doyen an, sah ihn unverwandt an, vergaß alles um sich her; in seiner Erregung, in seinem Feuer war er prachtvoll. Jetzt war es ihm ernst, jetzt war er nicht mehr der Schauspieler, der sich und die ganze Welt zum Narren hält, er war Offizier, ein Kämpfer für seine Sache, und das war sein wahres Gesicht. „Sagen sie mir“, stammelte sie, „sagen sie mir etwas! Nennen sie mir ein Beispiel, Herr Kirna!“
„ Einen Augenblick, Baroness! Man wird auf uns aufmerksam, ich werde eine Schale mit Obst holen, es macht sich besser, wenn wir Birnen schälenderweise plaudern.“
Auf einen Wink von ihr kam ein Diener, der das Begehrte sofort servierte.
„ So! Sehr gut! Ich darf ihnen diese ‘‘köstliche von Charneu’’ zubereiten und ihnen dabei einige Beispiele geben, wie man wirken kann nach den Maximen des Herrn Scribe, die er uns in seinem ‘‘Glas Wasser’’ so prachtvoll demonstriert. Er nennt das ‘‘ein Sandkorn unter die Räder stoßen’’. Einmal hat ein Engländer selbst uns diesen Dienst erwiesen.“
„ Erzählen Sie!“
„ Als nach dem Krieg das englische Parlament den Beschluss zu fassen im Begriff stand, das beschlagnahmte Privateigentum der Deutschen nicht wieder herauszugeben, trat der Dichter Galsworthy auf und sagte öffentlich: ‘‘Eine solche Moral, meine Herren, stammt aus der Müllgrube!’’ Das war das rechte Wort an rechter Stelle, es packte die Gentlemen an ihrer verwundbarsten Stelle. Bei der nächsten Abstimmung fiel der Müllgruben-Vorschlag glänzend durch.“
„ Ja, aber – das war ein angesehener Engländer, der das Wort sprach!“
„ Und Sie, meine Gnädigste, werden eine angesehene Engländerin.“
„ Eine Engländerin? Ich? Das Schwabenmädel??“
„ Nichts ist leichter als das: Sie kommen nach England mit einem englischen Namen, mit einem englischen Pass.“
„ Wie soll ich?“
Herr von Barnek winkte leicht ab. „Alles sehr einfach, Baroness! Lohnt gar nicht davon zu sprechen. Sie kommen aus den Kolonien, Indien, Australien, was weiß ich! Man führt sie ein. Sie tanzen. Sie reiten. Sie plaudern. Sie brillieren!“
Tess wollte unterbrechen, musste aber lachen und sich freuen über seine unbekümmerte Art und gleich hatte er das Wort wieder an sich gerissen.
„ Sie schreiben Artikel in dieses und jenes Journal. Ihr Name wird bekannt. Sie fehlen bei keinem Rennen. Sitzen in jeder Premiere, blamieren mit ihren chemischen Kenntnissen die größten Chemiker ganz Englands. Sie veröffentlichen noch etwas ganz Schlagendes aus diesem oder jenem Gebiet – über Nacht sind sie eine Berühmtheit.“
Jetzt lachte Tess laut auf.
„ Ich weiß, Baroness, das klingt komisch, an deutschen Verhältnissen gemessen, aber es ist so, wie ich es ihnen beschreibe. Wenn sie schon hier sich in wenigen Semestern eine solche Stellung erringen konnten, hier in dem klassischen Lande der Chemiker, der Erfinder, wie viel leichter wird es ihnen in England gelingen, wo die Konkurrenz so sehr viel schwächer ist!“
„ Wollen wir das auf sich beruhen lassen“, sagte Tess, wieder ernst werdend, „aber von ihren Möglichkeiten, Sandkörner unter die Räder zu stoßen, hörte ich gerne noch einiges.“
„ Gut! Strengstens vertrauliches will ich ihnen mitteilen, wie sie – hm - wie man in England eine uns Deutschen genehme Persönlichkeit auf einen wichtigen Posten bringen kann. Was nun gerade zu besetzen ist: Die Stelle eines Pressechefs, eines Ministers, des britischen Botschafters in Berlin – was sonst noch! Gut, wenn man sich beizeiten seinen Mann aussucht, sei es nun ein wirklicher Germanophile, sei es auch ein repräsentativer Trottel, der uns nicht viel schaden kann. Man bringt zunächst in dieser und jener Gesellschaft, beim Pferderennen, auf der Tribüne beim Fußballmatch, im Foyer des Theaters die Rede auf unseren Mann, nennen wir ihn: Lord Dreamingham! Ganz beiläufig und unverbindlich geschieht das. Man sieht dann schon, wie der Name so im Großen und
Weitere Kostenlose Bücher