Entfesselte Energien (Band 1)
Widerspruch; wer lässt sich nicht gern vor einer ganzen Clique so emporheben als der Mann, der diese eminent wichtige Sache zuerst gewusst und aus seinem eignen Repertoire heraus begründet hat!“
Tess , die atemlos gelauscht hatte, sprang auf. „Wahnsinnig raffiniert! Aber damit ist die Sache doch noch nicht ..."
„ An den maßgebenden Stellen meinen Sie? Sie kennen England noch nicht. Viel mehr als bei uns verwischen sich dort die Grenzen zwischen offiziellen Persönlichkeiten und hervorragenden Privatleuten, zwischen amtlicher Nachricht und nebenamtlichen bzw. rein persönlicher Meinungsäußerung, zwischen Klubgespräch und Staatsaktion. Schon manche Prophezeiung, in exclusivem ‘‘Club inter pocula’’ fallen gelassen, beabsichtigt oder als geistreichen und scharfsinnigen Einfall, hat drüben schon die ganze Staatsmaschinerie in Bewegung gesetzt, einen Premierminister gestürzt, einen Vizekönig auf den Thron in Delhi gebracht.“
Der Redner schwieg und auch Tess schwieg, man hörte eben nur die Schritte der zu ihren Plätzen zurückkehrenden Paaren, da der Tanz gerade aufgehört hatte. Herr von Barnek erhob sich, ohne in den Zügen seines Opfers zu forschen, er war der Wirkung seiner Worte so gewiss, dass er der Zeit das Weitere überlassen konnte, die Wogen, die er aufgerührt hatte, würden sich nicht so bald wieder legen. Lange sah Tess vor sich hin auf den Teppich und, indem sie seine zackigen Muster zum hundertsten Male mit den Augen nachzog, malte sie sich aus, dass sie, wenn sie Riemenschneider nicht kennengelernt hätte, wohl diesem Manne, der da eben das Zimmer verließ, nach England folgen würde. Man hatte sie aber inzwischen hier in der Abgeschiedenheit entdeckt und mehrere der jungen Herren kamen, um sie wieder in den Tanzsaal zurückzuführen.
Viel gab es freilich nicht mehr mit dem Tanzen, die beste Zeit hatte sie verplaudert. Man ging in diesen Kreisen zeitig nach Hause, da die Herren größtenteils am nächsten Morgen früh ihren schweren und verantwortungsvollem Dienst begannen. Sie vermisste übrigens nichts, zum Tanzen war sie in letzter Zeit wenig aufgelegt; dieser kurzwellige Rhythmus wollte eben nicht in sie eingehen, dazu gehört innere Ruhe und oberflächliche Anspannung. Aufgewühlt wie sie augenblicklich noch war, rollen die Wogen oft lang dahin, dazu passen Tango, Foxtrott und Paso Doble nicht gut.
Aber Franz war auf seine Kosten gekommen, er strahlte und leuchtete; hatte er das Gefühl, den ersten Abend bezwungen zu haben? „Wir sehen uns morgen, Franz!“, rief ihm Tess zu.
„ Vergiss die Zeit nicht!“ Er feixte, Tess warf die Mähne zurück und rannte den anderen nach, von dem langen Blick, der ihm noch aus dunklen Augen folgte, sah er nichts mehr.
Oben auf der Treppe traf Tess die Chilenin, die gleich die Augen niederschlug und rot wurde.
„ Luschida!“, sie schlug den Arm um die hellbronzenen, vollen Schultern der Freundin.
„ War’s fein?“
Laut atmete das Mädchen in dem wundervollen dunkelroten Crêpe de Chiné Kleid aus, es war fast wie ein leiser Schrei; sie warf sich jäh herum und umschlang ganz leidenschaftlich das schlanke deutsche Mädchen. Ein bisschen Schlucken und Schluchzen – dann stammelte sie: „Tess! – Tess! – Tess, – ich bitten so sehr – so lieb – ach, bitte, bitte, bitte!“
„ Ja! Aber um was geht es denn, Luschida?“
Luschida lockerte ein wenig ihre Griffe und horchte auf. „Alles? Sagen Tess liebenswürdig, ‘‘alles’’? – Lieb Tess, mir schenken – Liebe!“
Tess ließ los und lachte laut auf. „Hoffnungslos bist du, Luschida! Entzückend finde ich das! Schade, dass man das nicht allen erzählen darf!“
„ O nein, nicht erzählen! Nicht erzählen! Nicht erzählen. Chikitilla – Chikichikichikitillita!“ Ebenso viele Male strich sie mit dem geschmeidigen Zeigefinger über Tessis Lippen. „Liebhaben! – Verlieben! – Ganz lieben – innig!“
„ Ja – ja – ja!“, drohte Tess.
„ Ach, fromm lieben!“
Tess bog sich vor Lachen. „Die Frömmigkeit möchte ich sehen!“
„ Ganz wahr! – Sicher wahr! – Wahrhaftig wahr!“
Tess legte zart den Zeigefinger auf ihre Lippen. Dann zog sie sie mit sich hinauf. „Komm, Luschida ins Bett gehen! Heute Nacht nicht mehr lieben!“
„ Nein heute nicht mehr? Aber bald! – Bald! – Bald!“ Ebenso viele Küsse bekam Tess noch im Flur.
12 . Kapitel
Tess und Franz fuhren mit dem Frühzug,
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