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Entfesselte Energien (Band 1)

Entfesselte Energien (Band 1)

Titel: Entfesselte Energien (Band 1) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Collmann
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sah sie, wie die Majorin, die eben an der offenen Türe vorbeitanzte, sich innig an den blonden Riesen, an ihren ‘‘Schüler’’ schmiegte. Eine Illustration zu dem Stoßseufzer! Sollte sie sich freuen für ihn? Oder sich schämen für sie? Dann war das Bild fort, ausgelöscht! Auch aus ihrem Gedächtnis! Sie sah nichts mehr von den tanzenden Paaren. Keine Einzelheit. Sie sah nur das Vorbeitreiben, die fließende Bewegung, das endlose, unabsehbare Dahinfluten, das gerade eben so vordringlich an ihrer Seele pochte. War es ein Bild ihrer Zukunft? Würde auch sie so von dem Strudel gepackt werden, mitgerissen gegen ihren Willen, hineingeschleudert werden in den formlosen, persönlichkeitslosen Haufen der Masse, der am laufenden Band steht und fünfstellige – sechsstellige – achtstellige Multiplikationsergebnisse produziert? In einer Fabrik stehen, eintönige Handgriffe machen, fünfhundert Mal am Tage denselben Handgriff! Vielleicht auch acht hundertmal! Zusammen mit einem Heer von anderen Frauen arbeiten! Nur noch eine Nummer sein, eine unter tausend, wie alle die sie frühmorgens ihre Blechmarke an das Schwarze Brett im Portierhause hängen! Wehe, wenn Sie sie einmal nicht daran hängen! Und Riemenschneider nur noch von Weitem sehen, vielleicht einmal, wenn er mit einem Abteilungschef über den Hof geht, oder wenn er in seinem Privatlaboratorium sich einmal am Fenster zeigt, im weißen Kittel.
    Sie raffte sich auf und machte sich los von der entsetzlichen Vision. Nein, niemals würde er, der doch allseits so Rechtschaffene sie so tief sinken lassen. Sie wandte sich ihrem Gegner zu – für sie war er doch ein Gegner. „Sie spekulieren auf Ereignissen, Herr Kirna, taktieren mit Ursache und Wirkung, mit der unabänderlichen Logik der Tatsachen. Sie vergessen aber, dass im Geschehen auch Personen mitwirken. Personen, die man nicht wie Schachfiguren verschieben kann, wenn man sie nicht sehr genau kennt. Und wenn man sie trotzdem einsetzt in seine Gleichung, so hat man eine Gleichung mit zwei Unbekannten, nur unter besonderen Voraussetzungen lösbar und das führt bekanntlich zu einer diophantischen Gleichung.“
    Wie recht sie hat , dachte er bei sich, schon einmal habe ich heute diesen Fehler gemacht, dass ich diese Person beurteilte nach meinen Erfahrungen, nach meinen sehr üblen Erfahrungen; dass ich wie ein unverbesserlicher Mediziner pathologische Zustände voraussetzte, wo ich einen gesunden, besonders gesunden Menschen vor mir hatte. Aber er fasste sich und gab seinen Plan noch nicht gänzlich verloren; geht es nicht von dieser Seite, dachte er bei sich, so geht es vielleicht von einer anderen. Einen Augenblick überlegte er, dann fuhr er fort: „Es ist übrigens nicht so, wie man es in Büchern liest, wie es gewisse Filme darstellen; denken sie nicht, dass sie mit Nachschlüsseln, Mikrofonen und Chloroformmasken hantieren müssten, oder dass man von ihnen verlangen würde, die Geliebte eines Vizeadmirals zu werden, um die neuesten Chiffre der Funksprüche auf der englischen Flotte auszukundschaften! Die Sache ist heute ganz anders; es genügte schon, wenn sie Zugang in vornehmen Kreisen drüben fänden – und dazu sind bei ihnen alle Voraussetzungen gegeben – und wenn sie dort, hin und wieder einmal einen Gedanken, den man ihnen mitteilen wird, in die Debatte werfen, vielleicht auch einmal etwas über diesen Gedanken schreiben wollten. Die englischen Zeitschriften sind fast immer überaus arm an Gedanken und pflegen daher jede Anregung, wenn sie nur in vollendeter Stilistik vorgebracht wird, dankbar aufzugreifen. Selbst wenn in ihrem Aufsatz Kritik an Maßnahmen der englischen Regierung geübt wird! Das wäre kein Hinderungsgrund drüben, darin ist der Engländer wirklich tolerant. Sie verstehen, dass sie damit unserer Diplomatie einen außerordentlichen Dienst erweisen könnten; denn es kommt manchmal nur darauf an, dass in einem bestimmten Augenblick ein bestimmter Gedanke auftaucht, dass über diesen Gedanken gesprochen wird – und dafür will ich schon sorgen, sodass er sich wie eine Lawine weiterwälzt.“
    Tess wurde sehr aufmerksam. Das waren ganz neue Töne, die sie da hörte. Nur ganz zaghaft wagte sie dagegen einzuwenden, dass wir dafür doch unsere diplomatische Vertretung drüben hätten.
    „ Das ist ein Irrtum, Baroness!“, konterte ihr da der andere mit gutem Grunde. „Es gibt Dinge, die an und für sich überaus wichtig sind, die aber aus diesem oder jenem Grunde von unseren

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