Entflammt
Sollte ich mir den Weg zur Erlösung freifegen oder was?
»Oh, gut, dass ich euch noch erwische«, rief River, die aus der Küche kam. »Ihr beide fahrt in die Stadt, nicht wahr?«»Ja«, sagte Reyn.
»Und Reyn wird fahren«, erklärte ich. »Weil er der Junge ist.« Rivers Brauen hoben sich.
»Ich fahre, weil Nell beide Kotflügel vom Laster verbeult hat«, erwiderte R eyn sachlich. »Und weil sie die ganze Seite vom Toyota verkratzt hat. Und einen Reifen vom Lieferwagen plattgefahren hat.«
Nell warf mir einen ihrer üblichen giftigen Blicke zu, bevor sie sich verteidigte. »Ich muss mich erst daran gewöhnen, auf der falschen Straßenseite zu fahren! Hier ist ja alles andersrum!« »Du bist schon zwei Jahre hier«, entgegnete Reyn unbeeindruckt und griff nach den Autoschlüsseln. Nell sah aus, als stünde sie kurz vorm Explodieren, und ich hatte das Gefühl, wenn Reyn und River nicht dagewesen wären, hätte sie ihre Wut an mir ausgelassen. Aber stattdessen nahm sie ihren eigenen Mantel vom Haken und rammte die Arme in die Ärmel.
»So, so«, sagte River ein wenig verwirrt. »Reyn - und Nell, wer immer auch fährt -, ich möchte, dass ihr Nastasja mit in die Stadt nehmt. Sie braucht ein paar praktische Kleidungsstücke. Könnt ihr sie bei Early's absetzen?«
Wenn Nell jetzt einen Laut von sich gegeben hätte, wäre es ein schrilles wutentbranntes Kreischen gewesen. Aber sie beherrschte sich und rauschte wortlos zur Tür hinaus.
»Ich habe ein Auto«, erklärte ich hastig. »Ich kann selbst fahren.«
»Aber so spart ihr Sprit«, sagte River gelassen. »Wir versuchen stets, unsere Besorgungen zusammenzulegen.«
Reyn und ich sahen uns zögerlich an. Dann musste ich daran denken, wie viel Spaß es machen würde, bei diesem Ausflugdas boshafte dritte Rad am Wagen zu sein. Wieder einmal hatte ich auf dem Weg zum Gut-sein eine falsche Entscheidung getroffen, doch ich konnte nicht anders, als fröhlich die Treppe hinunterzutraben, um Nell den Tag ZU vermiesen.
Immerhin hatte ich erkannt, dass meine Entscheidung falsch war, und das war doch auch schon ein Fortschritt, oder?
***
Early's war der Futter-und Farmerladen gleich neben MacInDrugstore. Hier gab es landwirtschaftlichen Kram,Klamotten, Spielzeug, altmodische Süßigkeiten und Zeug für die Küche. Der Laden hatte einen Holzfuß- boden, eine braungestrichene Decke aus Blechplatten und hohe Metallsäulen, die das Dach stützten. Alles sah schlicht und bescheiden aus.
»Die Kleidung ist da vorn.« Reyn zeigte nach links. »Ich muss Futter kaufen. Ich hole dich wieder ab, wenn ich fertigbin.«Uninteressierter konnte er sich kaum anhören.
Ich bedachte ihn mit einem verführerischen Lächeln. »Danke dir«, sagte ich süß und sah seine Pupillen zucken. »Du bist ein Schatz.«
Nells Gesicht versteinerte, als wäre es aus Marmor, und sie verzog sich in die Ecke mit den Küchengeräten.
Reyn sah mich noch einen Moment lang an, dann verschwand auch er.
Ich kicherte, als die beiden weg waren, aber dann sah ich mich Regalen voller Frauenkleidung gegenüber, riesigen Stapelnordentlich gefalteter Jeans auf Tischen, bergeweise Pullovern - und ich fühlte mich ein bisschen überfordert. Ich konntemich nicht erinnern, schon jemals praktische Klamotten gekauft zu haben. Als ich noch arm gewesen war, vor ein paar Hundert Jahren, hatte ich meine Kleider selbst gemacht - hey, hat jemand Interesse an grob gesponnenem Leinen? Selbst geschorener Wolle? Nein?
Als ich dann Geld gehabt hatte, brauchte ich keine praktischen Sachen mehr. Vor langer Zeit wurde alles für mich angefertigt, von Leuten, die ins Haus kamen. Und noch heute hatte ich kein echtes Gefühl für Mode, obwohl ich natürlich froh war, dass sich Korsetts und Petticoats mittlerweile erledigthatten. Wenn ich nichts mehr anzuziehen hatte, rief ich meinen persönlichen Einkäufer an, der alles besorgte, was ichbrauchte. Es war Jahrzehnte her, dass ich mir überlegt hatte, was zueinanderpasste oder welches Outfit man zu welcherGelegenheit trug. Es war mir immer egal gewesen, ob ich in irgendwas hübsch aussah oder ob es mir schmeichelte. »Shit. Okay, ich kriege das hin«, murmelte ich. Ich war ganz bestimmt nicht zu dämlich, um ein paar Klamotten zu kaufen. Nell wusste garantiert, wie es ging.
»Häh? Redest du mit mir?«
Ich fuhr zusammen und mein Blick fiel auf einen Goth-Teenager mit einer schwarzen Jeans in den Händen. Das Mädchen kam mir vage
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