Entführt: Die Abenteuer des David Balfour I (Spannend erzählt) (German Edition)
sagte der Advokat, als ich zum Schluß meines Berichtes kam, »das ist ja ein ganzer Roman, eine wirkliche Odyssee, die Ihr da erlebt habt. Sobald Ihr in dem Studium der lateinischen Sprache weitergekommen seid, solltet Ihr versuchen, Eure Erlebnisse niederzuschreiben, auch in der englischen Sprache, wenn Euch das besser zusagt. Ich für meine Person bevorzuge allerdings die herbe klassische Ausdrucksweise. Ihr seid weit herumgekommen quae regio in terris 6 oder, um es heimatlich auszudrücken, welches Kirchspiel in Schottland habt Ihr bei Euren Wanderungen nicht berührt? Dabei müßt Ihr ein seltenes Geschick an den Tag gelegt haben, in schwierige Lagen zu kommen, Euch aber, wie ich zugeben muß, im großen und ganzen wacker zu halten. Dieser Mr. Thomson scheint mir ein Mensch mit ungewöhnlichen Vorzügen zu sein, vielleicht ein wenig zu kriegerisch, dennoch wäre es bei all seinen Verdiensten wünschenswert, ihn bald auf der Nordsee schaukeln zu wissen; denn, lieber Mr. David, der Mann kann Euch in arge Schwierigkeiten bringen. Zweifellos tut Ihr recht daran, zu ihm zu halten, es bleibt schließlich bestehen, daß er Euch ein treuer Weggenosse gewesen ist paribus curis vestigia figit 7 , aber ich meine, Ihr dürftet beide die Aussicht auf den Galgen nicht ganz vergessen. Tch denke jedoch, daß, menschlich gesprochen, die Zeiten Eures Mißgeschicks nun bald hinter Euch liegen.«
Während er sich solcherweise in sittlichen Betrachtungen über meine Abenteuer erging, sah er mich so belustigt und wohlwollend an, daß ich meine Genugtuung kaum verbergen konnte. Ich war so lange mit verfemten und vom Gesetz verfolgten Menschen umhergezogen und hatte so oft unter freiem Himmel im Bergland schlafen müssen, daß die tatsache, wieder einmal in einem sauberen, gepflegten Hause mit einem festen Dach über dem Kopfe sitzen und mit einem gutgekleideten Herren in einem feinen Tuchrock sprechen zu dürfen, etwas wahrhaft Erhebendes für mich hatte.
Als ich mir dessen so recht bewußt wurde, fiel mein Blick unwillkürlich auf meine eigenen unansehnlichen Lumpen, was erneut eine heftige Verwirrung bei mir auslöste. Aber auch der Advokat hatte meine Verlegenheit bemerkt und richtig gewertet. Er erhob sich, ging hinaus zum Treppenabsatz und rief, es möge ein zweites Gedeck für Mr. Balfour, der zum Mittagsmahl bleibe, aufgelegt werden. Dann geleitete er mich ins obere Stockwerk zu einem Schlafzimmer, holte eine Waschschüssel, Kamm und Seife herbei und legte einige Kleidungsstücke bereit, die wohl seinem Sohn gehört haben mochten, und mit einem freundlichen Abschiedswort verließ er mich, damit ich mich säubern und umkleiden konnte.
2 nicht vom Urbeginn soll über den Trojanischen Krieg berichtet werden
3 mitten in die Sache hinein
4 Ich war es, ich bin es nicht mehr.
5 ein bartloser, unbeaufsichtigter J+ngling
6 in welcher Gegend der Erde
7 mit glerichen Sorgen ging er denselben Weg
XXVIII. Ich jage meiner Erbschaft nach
So veränderte ich nach Möglichkeit mein Aussehen. Erfreut stellte ich sodann bei einem Blick in den Spiegel fest, daß der abgerissene Bettelmann der Vergangenheit angehörte und der frühere David Balfour neu erstanden war. Aber irgendwie schämte ich mich dieser Verwandlung, vor allem wegen der ausgeborgten Kleidung.
Sobald ich mit meiner Toilette fertig war, nahm mich Mr. Rankeillor im Treppenhaus wieder im Empfang. Er beglückwünschte mich zu meinem vorteilhaften Aussehen und bat mich noch einmal in sein Privatkontor.
»Nehmt Platz, Mr. Balfour«, sagte er, »und nun, da Ihr wieder mehr Euch selber gleicht, laBt sehen, ob ich Euch mit guten Nachrichten aufwarten kann. Sicherlich seid Ihr über das Verhalten Eures Vaters und Eures Oheims erstaunt. Es ist gewiß eine ungewöhnliche Geschichte. Die Erklärung, die ich Euch geben kann, treibt mir die Schamröte in die Wangen, denn«, fuhr der Advokat sichtlich verlegen fort, »die ganze Sache beruht auf einer Liebesaffäre.«
»Wahrhaftig?« rief ich. »Das ist ja eine Vorstellung, die ich mit meinem Oheim nicht in Verbindung zu bringen vermag.«
»Euer Oheim, Mr. Balfour«, versetzte der Advokat, »ist nicht zu allen Zeiten ein alter griesgrämlicher Mann gewesen, und er war auch, was Euch vielleicht ungewöhnlich erscheinen mag, nicht immer ein häßlicher Mann. Nein, er wirkte so angenehm und liebenswürdig, daß die Leute in ihren Haustüren stehenblieben und ihm bewundernd nachschauten, wenn er auf seinem feurigen Roß vorüberritt. Ich
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