Entführt: Die Abenteuer des David Balfour I (Spannend erzählt) (German Edition)
nach. Er hörte nicht, wie ich in die Küche kam und nun dastand und ihn beobachtete.
Die Zeit hatte gerade ausgereicht, daß er zum Eckschrank gehen und eine große Korbflasche hatte herausnehmen können. Jetzt saß er am Tisch und kehrte mir den Rücken zu. Immer wieder wurde er von einer Art Krampf geschüttelt; er stöhnte laut, setzte die Flasche an die Lippen und goß den puren Alkohol in großen Schlucken hinunter.
Ich trat dicht an ihn heran, blieb hinter ihm stehen und griff plötzlich mit beiden Händen nach seinen Schultern.
»He, Ihr!« schrie ich.
Mein Oheim stieß einen halberstickten Schrei aus, der wie das Blöken eines Schafes klang. Er warf die Arme in die Luft und sackte zusammen wie ein Toter.
Ich war darüber ziemlich erschrocken, aber ich mußte die Gelegenheit ausnützen, um mich umzusehen, und ließ Ohm Ebenezer unbedenklich dort liegen, wo er zu Boden geglitten war.
Rasch hielt ich Umschau. Das Schlüsselbund hing an der Schranktür. Ehe mein Oheim wieder zu sich kam und erneut auf Böses sinnen konnte, wollte ich mich zuerst mit Waffen versehen.
Im Schrank standen einige Flaschen, von denen mehrere wohl Arznei enthielten. Rechnungen in Mengen und andere Papiere, in denen ich, wenn Zeit gewesen wäre, gern gekramt hätte, lagen ungeordnet umher, außerdem ein paar Gebrauchsgegenstände, mit denen ich nichts anzufangen wußte.
Nun durchstöberte ich die verschiedenen Truhen. Die erste enthielt einen Vorrat Hafermehl, die zweite einige Geldbeutel und gebündelte Papiere. In der dritten fand ich zwischen anderen Dingen – es waren meist Kleidungsstücke – ein rostiges, gefährlich aussehendes Dolchmesser ohne Scheide. Ich verbarg es in meiner Jacke und wandte mich nun meinem Oheim zu.
Er lag noch genauso da wie zuvor, das eine Knie hochgestellt, den einen Arm ausgestreckt. Sein Gesicht hatte eine merkwürdige blaue Färbung, und er atmete anscheinend nicht mehr. Angst befiel mich, denn ich glaubte, er sei tot. Ich holte Wasser herbei und schüttete es ihm ins Gesicht. Davon schien er langsam zu sich zu kommen; denn er bewegte die Lippen, seine Lider zuckten.
Schließlich blickte er hoch. Als er mich sah, nahmen seine Augen einen entsetzten Ausdruck an.
»Kommt zu Euch«, sagte ich, »richtet Euch auf.«
»Du lebst«, stammelte er, und es klang wie ein Aufschluchzen. »Junge, du lebst ja.«
»Ja, ich lebe«, sagte ich, »aber das ist nicht Euer Verdienst.«
Stöhnend rang er nach Luft.
»Die blaue Phiole«, keuchte er, »im Schrank, die blaue Phiole.«
Sein Atem ging leiser.
Ich lief zum Schrank und fand darin ein blaues Arzneifläschchen; auf einem Papierstreifen stand die Verordnung zu lesen. So rasch ich konnte, flößte ich ihm ein paar Tropfen davon ein.
»Das Leiden ist es«, sagte er und lebte ein wenig auf. »Ich habe ein Herzleiden, Davie, das Herz ist es.«
Ich zerrte ihn vom Boden hoch und half ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Seltsamerweise empfand ich für den kranken Mann so etwas wie Mitleid, war aber außerdem rechtschaffen zornig.
Zuerst zählte ich ihm die Punkte auf, für die ich eine Erklärung haben wollte.
Weshalb belog er mich mit jedem Wort, das er sagte? Weshalb fürchtete er, daß ich davonlaufen würde? Weshalb hatte ihn die Frage, ob er und mein Vater Zwillinge gewesen seien, so sehr erbost? Etwa weil das der Wahrheit entsprach? Weshalb hatte er mir Geld gegeben, auf das ich meiner Überzeugung nach keinen Anspruch geltend machen konnte? Und schließlich fragte ich ihn, weshalb er versucht hatte, mich umzubringen.
Schweigend hörte er sich das alles an, bat aber dann mit brüchiger Stimme, ich möge ihn zu Bett bringen.
»Ich werde dir morgen früh antworten«, sagte er, »todsicher werde ich das.«
Da er so schwach und hinfällig war, blieb mir nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Nur schloß ich ihn in seinem Schlafzimmer ein und steckte mir den Schlüssel in die Tasche. Dann ging ich wieder in die Küche und entfachte im Kamin eine solche Glut, wie es sie hier seit vielen Jahren nicht gegeben hatte. Ich wickelte mich in ein paar Decken, legte mich auf eine der Truhen und schlief sogleich ein.
V. Ich gehe mit meinem Oheim zur Bootsfähre
In der Nacht regnete es heftig, und am nächsten Morgen wehte ein kalter Wintersturm aus Nordwesten; er trieb Wolkenfetzen vor sich her. Dennoch ging ich, ehe sich die ersten Sonnenstrahlen zeigten und ehe die letzten Sterne verschwunden waren, zum Bach hinunter und stürzte mich in das tiefe
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