Entfuehrt
wollte kein Risiko eingehen. Er weigerte sich, die Klinik zu verlassen. Den ganzen Tag hielt er sich in einem der leeren Büros im hinteren Teil des Gebäudes auf, von wo aus er auf den Parkplatz im Hinterhof schaute.
Sowohl Nick als auch Chris hatten angeboten, für ihn die Nachtschicht zu übernehmen, weil sie beide wussten, welcher Tag morgen war. Ein Tag, den er nie wieder durchleben wollte. Und den er doch immer wieder aufs Brutalste in seinen Träumen durchstehen musste.
Die kommende Nacht war für Geister geschaffen, lebende und tote.
Verflucht, sein Körper fühlte sich nach zu wenig Betätigung ganz wund an. Er wollte am Strand entlanglaufen, wollte seine nackten Füße in den Sand hämmern, bis es nichts mehr gab, außer dem Rhythmus seines Körpers, der jeden Winkel seines Verstandes ausfüllte.
Im Moment war einfach alles viel zu nackt und ungeschützt.
19
Obwohl sie Jake an diesem Tag nicht allzu oft sah, spürte Isabelle seine Anwesenheit deutlicher als sonst. Er hatte Wort gehalten und sie morgens zur Klinik gefahren. Sie hatte den Tag damit zugebracht, neue Rekruten einer Musterung zu unterziehen und einige Marinesoldatinnen zu versorgen, die ihre Grundausbildung fast geschafft hatten. Die jungen Frauen stolzierten durch die Gänge und verhielten sich so ähnlich wie ihre männlichen Kollegen, die sich gern mit ihren Fähigkeiten brüsteten.
Sie wünschte, sie würde über nur halb so viel Selbstvertrauen verfügen. Sie hatte den ganzen Tag so getan, als sei alles in Ordnung. Aber sobald es in den Gängen zu ruhig wurde, stürzten die Zweifel wieder auf sie ein, und sie überlegte, ob sie dort noch sicher war.
Sie hatte es schon kaum geschafft, sich zusammenzureißen, als sie glaubte, Rafe sei im Gefängnis. Jetzt wusste sie, dass er frei herumlief und auf dem Weg zu ihr war. Immer wieder verlor sie die mühsam aufrechterhaltene Beherrschung.
Um sechs, als ihre Zwölf-Stunden-Schicht zu Ende ging, nahm sie einen Stapel Akten vom Schreibtisch. Erst jetzt bemerkte sie das kleine Paket, das jemand auf die Ecke ihres Schreibtischs gelegt hatte. Ein flacher brauner Umschlag, der an sie adressiert war. Die Adresse des Absenders war in Norfolk, aber es stand kein Name dabei.
Ohne darüber nachzudenken, öffnete sie den Umschlag. Sie dachte, es könnte sich vielleicht um medizinische Bücher oder Sanitätsartikel handeln. Aber als der rote Kanga – dasselbe Kleidungsstück, das sie in Afrika als Decke benutzt hatte – ihr entgegenfiel, überwältigte sie augenblicklich eine lähmende Furcht. Als sie den Mund öffnete, um Jake zu rufen, drang kein Laut über ihre Lippen. Sie versuchte es erneut, aber sie fing lediglich an zu hyperventilieren.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, und obwohl sie kein Wort hervorbringen konnte, nahm sie ab. Sie glaubte, auch diesmal würde sie die Stille begrüßen.
Aber dieses Mal hörte sie eine Stimme.
»Ich habe deinen SEAL, Izzy.«
Isabelle wusste später nicht, wie sie es in diesem Augenblick geschafft hatte, auf den Füßen zu bleiben. Sie zögerte nicht, sondern wählte sofort mit der freien Hand Jakes Handynummer.
Sie hielt ihr Handy an das andere Ohr und hörte nach wenigen Sekunden das Freizeichen. Aber sie hörte kein klingelndes Telefon auf Rafes Seite der Leitung. »Du lügst.«
Rafe lachte. Es war ein leises Lachen, das sie einst so sehr gemocht hatte. Jetzt ließ es ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie klappte ihr Handy zu, bevor Jake das Gespräch annehmen konnte. Dann griff sie in die unterste Schreibtischschublade und zog die Waffe heraus, die sie am Morgen dort deponiert hatte. Sie entsicherte die Waffe und wich zur Wand zurück.
»Er ist mir nicht gewachsen. Und er weiß das auch. Gefällt dir mein Geschenk?«, fragte er. »Erinnerst du dich, wie ich den Kanga um dich gewickelt habe, wenn es nachts kühl wurde?«
Sie erinnerte sich. An alles, egal wie sehr sie sich bemühte, die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu löschen. »Du Mistkerl. Du hast mich zum Sterben zurückgelassen.«
»Du bist eine Kämpferin. Ich wusste, du würdest es schaffen. Wie du ja auch gewusst hast, dass ich wieder zu dir komme«, sagte er. Und dann war die Leitung tot. Sie schleuderte den Hörer mit so viel Kraft zurück auf den Schreibtisch, dass er zerbrach und die Einzelteile zu Boden fielen. Und dann umfasste sie ihre Waffe fester und marschierte aus dem Büro.
Jake tauchte in der Tür auf, bevor sie sie erreichte.
»Wo willst du hin?«,
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