Entfuehrt
tiefe Schuld verspürte. Der Direktor hatte damals nicht erkannt, dass er gegen eine bereits jahrelang andauernde Konditionierung ankämpfte. Jake hatte an jenem Tag die perfekte Gelegenheit, alles zu enthüllen, doch er tat es nicht. Zum großen Teil hatte das etwas mit seinem Stolz zu tun, aber zu gleichen Teilen auch mit heftigen Schuldgefühlen, die Jake sich selbst gegenüber hegte.
Er hatte seit Jahren nicht mehr darüber nachgedacht. Hatte seit Jahren nicht mehr unter diesen verfluchten Albträumen gelitten, bis …
Er schloss fest die Augen und stellte sich Isabelle vor, wie sie stark und glücklich vor ihm stand, mit geröteten Wangen. Seine Wut verrauchte und machte einem merkwürdigen Gefühl inneren Friedens Platz.
»Ihre Nähte sind nicht gerissen. Die sehen sogar großartig aus. Und neu«, fügte Doc Welles hinzu. Jake öffnete die Augen und blickte auf seine Flanke. Sie war geschwollen und gerötet. Aber es hatte ihn schon schlimmer erwischt.
»Ach ja, letzte Nacht sind sie aufgegangen. Dr. Markham hat mich wieder zusammengeflickt.«
»Wer?«
»Sie ist neu auf dem Stützpunkt. Arbeitet in der Klinik.«
»Ach, die Schönheitschirurgin. Ja, sie ist gut.« Doc Welles schrieb etwas auf eine Karte. »Sie nehmen noch Antibiotika?«
»Ja.«
»Ich werde meinen Bericht an Ihren Führungsoffizier weiterleiten. Wenn die Wunde weiterhin so gut heilt, lasse ich sie in zwei Wochen wieder zum leichten Dienst zu. Aber übertreiben dürfen Sie es dann noch nicht«, erklärte Doc Welles ernst.
»Ich hoffe, er hat seine Nähte nicht aufgerissen.« Das tiefe, kontrollierte Knurren von Jakes Führungsoffizier John »Saint« St. James schien ihn geradezu zu überrollen.
Jake sah Doc Welles an, der nicht mal aufblickte, während er etwas in Jakes Akte notierte. »Hat er nicht.«
Saint warf Jake einen knappen Blick zu. »Mitkommen.«
Jake zog sein T-Shirt wieder über den Kopf, dankte dem Arzt und folgte Saint aus dem Praxisraum.
»Du solltest zu Hause sein und dich ausruhen.« Saint blickte ihn finster an, während sie zum Lagerraum gingen, von dem aus das Team 12 die Einsätze plante.
Den Blick, mit dem Saint ihn bedachte, war Jake gewohnt. Schließlich hatte er Saint unzählige Male über den Siedepunkt hinaus gereizt. Er wusste, dass sein Vorgesetzter auch dieses Mal schon wieder kurz vorm Explodieren stand.
»Ich ruhe mich aus. Vertrau mir«, murmelte Jake. »Ich will nicht, dass mich irgendwas davon abhält, bald wieder in den aktiven Dienst einzusteigen.«
»Du hinkst mit deinem Papierkram hinterher«, sagte Saint.
»Das hat ja wohl nichts mit dem aktiven Dienst zu tun, Saint. Aber ich erledige das«, versicherte Jake ihm. Er dachte an den Stapel Akten, den er irgendwo auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte und der höchstwahrscheinlich alles andere als schnell erledigt war. Aber zum Teufel, Saint musste ja auch nicht alles wissen.
»Es wäre jedenfalls besser, wenn da was passiert«, bemerkte Saint und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter, obwohl sein Blick gerade in eine andere Richtung ging.
Jake folgte seinem Blick und schaute über den Platz. Gerade rechtzeitig, um das Team zu sehen, wie es sich zum Strand schleppte, um eine ausgiebige Einheit Frühsport einzulegen. Nick war unter ihnen und bereitete sich mit vollem Gepäck auf den zehn Meilen langen Marsch vor. Jake wusste, die kalte Luft würde es erträglich machen, aber schon nach der ersten Meile würden die Männer in der eisigen Luft keuchen, und ihr Vorgesetzter würde über ihre Zeiten lästern und sie lahmarschige Hurensöhne nennen und drohen, ihnen alles wegzunehmen, vom Ausgang bis zu ihren Eiern. Doch, doch, die Dinge liefen hier ganz normal.
»Ich weiß, du willst wieder zurück in den Dienst. Aber überstürz es nicht«, sagte Saint. Jake blickte seinen Vorgesetzten an. Es gab Gerüchte, der Mann habe in jüngeren Jahren für Geld gegen Alligatoren gekämpft und hatte, nachdem ihm Blinddarm und Gallenblase entfernt worden waren, das Krankenhaus verlassen, noch bevor die Betäubung ganz nachgelassen hatte, weil er sich einfach nicht bedienen lassen wollte.
Saint hatte das SEAL-Team 12 übernommen, als die Einheit gerade gegründet wurde, weil es damals das Auffangbecken für die SEALs zu werden schien, die öfter mal etwas zu weit gingen und sich wenig um Autoritäten scherten. Saint verfügte über die richtige Art von Autorität. Er verstand die Wildheit der Männer, die sie trieb, und wusste, wann er sie zähmen und
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