Entfuehrt
Kurve. »Hör zu, ich verstehe dich ja. Vermutlich besser als jeder andere. Aber du solltest dir einfach noch etwas mehr Zeit geben.«
»Für einen so langwierigen Heilungsprozess habe ich keine Zeit«, gab sie zu. »Chirurgie ist so viel einfacher. Man fängt irgendwo an, man ist irgendwann fertig. Da gibt es nichts, das auf unbestimmte Zeit weitergeht. Ich bin es nicht gewohnt, dass etwas ein offenes Ende hat.«
»Wenn du in engen Räumen Probleme hast, hättest du das eben einfach nicht tun dürfen«, erklärte er. Sie wandte ihm überrascht das Gesicht zu. »Wenn du da drin eine Panikattacke gehabt hättest, wäre es mir nicht möglich gewesen, euch beide heil da rauszubekommen, ohne dass der Bus mit uns allen in den Abgrund gestürzt wäre.«
»Bist du fertig mit deinem Vortrag?«, fragte sie, während er vor der Klinik in eine Parklücke fuhr. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, mit welcher Leichtigkeit er ihre Schwachstellen offenlegte.
Er zog den Hebel der Automatik mit einem Ruck in die Parkposition und starrte Sekunden durch die Windschutzscheibe, ehe er weitersprach. »Ich habe dir letzte Nacht Angst eingejagt – als ich dich geküsst habe.«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Hatte er ihr Angst eingejagt? Er hatte die Erregung aus ihrem tiefsten Innern aufsteigen lassen, die sie ständig zu unterdrücken versuchte. Das Problem war, sie hatte genau gewusst, dass es so kommen würde, sobald sie Jake wiedersah. Sie hatte es sogar gehofft.
»Es war nicht bloß der Kuss«, sagte sie und hasste sich, weil sie errötete.
»Sondern weil ich dich umarmt habe. Weil ich dich auf die Matratze gedrückt habe.« Er hielt das Lenkrad so fest mit beiden Händen umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken. Wollte seine Hände berühren und sie vom Lenkrad lösen. Stattdessen ballte sie die Fäuste, bis sich ihre kurzgeschnittenen Fingernägel in ihre Handflächen drückten. »Du hast nichts falsch gemacht. Es ist ja nicht so, dass ich mich in deinen Armen nicht wohlfühle. Ich habe nur nicht damit gerechnet.«
»Ich hätte es besser wissen müssen.« Er sagte es mehr zu sich als zu ihr. »Dich so zu bedrängen, war nicht sonderlich hilfreich – du tust dann nur Dinge, die du lieber lassen solltest.«
Sie starrte ihn ein paar Sekunden von der Seite an, ehe sie die Beifahrertür aufstieß und aus dem Wagen kletterte. »Ich bin nicht in den Bus gegangen, weil du mich geküsst hast. Leck mich doch, Jake!«, rief sie, ehe sie die Tür hinter sich zuwarf.
Sie wandte sich ab, ehe ihr Blick seinen traf. So fiel es ihr leichter wegzugehen. Denn sie war nicht sicher, ob sie ihm die Wahrheit sagte. Sie hatte sich gewünscht, Jakes Arme um sich zu spüren, dass er sie mit sich riss und ihr Verlangen stillte.
Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum sie das noch nicht zulassen konnte. Sie wollte keinen Gedanken daran verschwenden, warum sie explodierte, sobald Jake versuchte, ihr zu helfen. Denn wenn sie darüber nachdachte, hieße das auch, sich jene schrecklichen Tage wieder in Erinnerung zu rufen.
Jeden, der versuchte, sie festzuhalten oder zu berühren, stieß sie weg. Nur Jake hatte sie in jener ersten Nacht halten dürfen, alles andere war zu viel. Sie wurde panisch, wenn Leute sie umarmten oder zu dicht neben ihr standen. Bei der Arbeit hatte sie in den zwei Wochen den Fahrstuhl gemieden und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Treppe genommen.
Sie war derart klaustrophobisch geworden, dass sie zweimal sogar hätte schwören können, Rafe im Krankenhaus zu sehen. Einmal in der Cafeteria, wo sie sich zum Mittagessen mit Daniel verabredet hatte. Beim zweiten Mal war es im verwaisten Korridor vor den Labors gewesen.
Danach hatten ihre Hände eine Stunde lang gezittert. Keine gute Voraussetzung, um den Patienten gegenüberzutreten, die auf die ruhigen Hände ihrer Chirurgin vertrauten. Sie hatte sich immer wieder sagen müssen: Er ist es nicht gewesen. Er ist im Gefängnis. Er kann dir nichts mehr tun.
Wenigstens war er ihr nie in ihre Träume gefolgt. Das war ein Bereich, aus dem sie ihn ausschloss. Aber tagsüber waren die Minenfelder zu zahlreich, um ihnen vollkommen ausweichen zu können.
Sogar in der Klinik hatte sie manchmal das Gefühl gehabt, die Wände kämen immer näher auf sie zu. Sie hatte dann vor der Tür gestanden, hatte tief durchgeatmet, bis sie sich besser fühlte. Und genauso machte sie es auch jetzt, während sie am Eingang stand.
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