Entfuehrung nach Gretna Green
sein, dass ihr Gesicht doch ein wenig Gefühl zeigte. Vielleicht eine unbeschreibliche Aura des Leidens. Ja! Das war es, was sie sehen würden. Unendliches Leid.
Wenn Viola die Augen schloss, konnte auch sie es bereits vor sich sehen - die weinenden Diener, den verwunderten Blick des Arztes, die Reue in den Augen ihrer Schwiegermutter. Letzteres brachte Viola dazu, die Lippen zu einem Lächeln zu verziehen, denn die Witwe Oglivie war schließlich der Grund für ihren Tod. Dessen war Viola sich sicher.
Sie war nach Stirling gekommen, um ihrer Schwiegermutter zu helfen, die an einer besonders schlimmen Influenza gelitten hatte. Die kranke Witwe sah einen Engel in ihr, eine Einstellung, die aber stets nur so lange anhielt, wie ihre Schwiegermutter sie brauchte, das wusste Viola aus Erfahrung.
Und tatsächlich, in dem Moment, in dem die Witwe sich aus dem Bett erhob, begann sie, auf nicht sonderlich feinsinnige Art an Viola herumzukritisieren. Unglücklicherweise fing es genau zu diesem Zeitpunkt an zu schneien, und Viola saß fest. Im Haus einer Frau, die glaubte, dass Viola „nicht gut genug für meinen Geoffrey“ war.
Mit wachsendem Groll hatte Viola zugesehen, wie sich der Schnee vor dem muffigen alten Haus immer höher auftürmte. Sie vermisste die Behaglichkeit und die Eleganz ihres eigenen Heims, die Gegenwart ihres geliebten Geoffrey und ihrer schönen Tochter Venetia.
Tatsächlich war es bei dem letzten Streit zwischen Viola und der Witwe um Venetia gegangen. Die alte Schreckschraube hatte einmal zu viel gesagt, dass Venetia ohne Ehemann „dahinwelkte“ und dabei so getan, als wäre das Violas Schuld.
Absolut nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Innerlich kochte Viola immer noch, wenn sie an die ungerechten Vorwürfe dachte, dass sie Venetia falsch erzogen hatte oder, schlimmer noch, dass sie Venetia absichtlich hatte im Elternhaus behalten wollen, um sich von ihr den Haushalt führen zu lassen, anstatt ihr eine gute Partie zu vermitteln.
Viola krallte die Nägel in die Laken und wünschte sich, ihre Finger würden Stattdessen den Hals der Witwe umklammern. Wenn die alte Schachtel von den zahllosen Versuchen gewusst hätte, die Viola unternommen hatte, Venetias Interesse an den unzähligen jungen Männern zu wecken, die sie nach Oglivie House eingeladen hatte. Ebenso wenig ahnte die Witwe von den zahllosen Abendgesellschaften, die Viola gegeben und den endlosen Bällen, zu denen sie Venetia begleitet hatte - alles in der Hoffnung, Venetia würde endlich an einem der jungen Männer Interesse zeigen.
Und alles vergeblich!
Es lag nicht daran, dass Venetia sich geweigert hätte, mitzumachen. Sie war nicht undankbar, und sie war auch bereit, Gesellschaften zu besuchen, aber sie begeisterte sich nicht dafür und auch nicht für die Männer, die sie kennenlernte. Irgendwie blieb sie immer völlig unberührt.
Viola hatte ihre eigene Theorie darüber, weshalb es so schwierig für die Männer war, Venetia zu gefallen. Der Grund hieß Gregor MacLean, und er war von Anfang an ein einziges Ärgernis gewesen. Es war hoffnungslos, zu erwarten, dass Venetia sich für einen normalen Sterblichen interessierte, solange Gregor MacLean in der Nähe war. Selbst Viola ertappte sich immer wieder dabei, wie sie Gregor anstarrte. Es war lächerlich, aber dieser Mann sah zu gut aus, um ihm widerstehen zu können.
So war Venetia also inzwischen weit über das übliche Heiratsalter hinaus, und Viola wünschte sich mehr als alles andere, wenigstens ein Enkelkind auf ihren Knien zu schaukeln, bevor sie starb.
Deshalb waren die Anschuldigungen ihrer Schwiegermutter besonders schmerzlich. Und das Gerede der Witwe war dafür verantwortlich, dass Viola nun hier auf ihrem Bett lag, das Fläschchen mit dem Riechsalz in Reichweite.
Sie hob den Kopf vom Kissen und warf einen Blick hinüber zu der Uhr auf dem Kaminsims. Es war fünf Minuten nach vier. Inzwischen war sie seit mehr als drei Stunden auf ihrem Zimmer, und immer noch war niemand gekommen, um nachzusehen, weshalb sie nicht zum Tee erschienen war. Viola ließ sich wieder zurück aufs Kissen fallen. Ihr Magen knurrte unangenehm. Sicher würde die Witwe bald jemanden schicken, um festzustellen, ob es ihr gut ging.
Falls es nicht zum Plan der bösen Frau gehörte, Viola dazu zu ermutigen, sich zu Tode zu hungern und dann ...
Es klopfte leise an die Tür.
Endlich! Viola strich die Decke glatt, lehnte sich fest gegen das Kopfkissen und kreuzte die Hände über der
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