Enthuellung
sich beim bloßen Klang von Michaels Stimme, und ich kämpfe gegen die Erinnerungen an, die Gestalt anzunehmen drohen. Warum können sie nicht einfach zurück in das Loch gehen, in dem ich sie begraben habe? Dort ist die Zeit vor zwei Jahren stehen geblieben.
Schritte erklingen auf der anderen Seite der Tür, und ich drehe mich um, als sie geöffnet wird und Chris erscheint, das blonde Haar zerzaust, als wäre er mit den Fingern hindurchgefahren. Der Blick seiner grünen Augen fällt auf mich, und das harte Glitzern in ihren Tiefen wird sofort weicher. Er zieht die Tür hinter sich zu, drückt mich an sich und murmelt leise: »Ich verstehe, warum du gegangen bist. Ich verstehe alles.«
Ich klammere mich an ihn, halte mich an ihm fest, und es fühlt sich an, als kämpfte ich um mein Leben. »Ich hätte es dir erzählen sollen.«
»Hättest du.« Er tritt zurück, um mich anzusehen. »Wenn du bereit gewesen wärst. Wir alle müssen uns auf unsere eigene Art unseren inneren Dämonen stellen, zu unserer eigenen Zeit.«
Ich lasse die Finger über die Bartstoppeln an seinem Kinn gleiten und verstehe nur zu gut. Er hat mir auch nicht alles erzählt, und ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass es immer noch etwas anderes gibt, irgendein dunkles Geheimnis, das uns möglicherweise auseinanderreißen könnte. Ich bin ja nicht einmal sicher, ob wir überstehen werden, was ohnehin vor uns liegt.
»Ihr Wagen steht an der Hintertür bereit, Sir.« Chris und ich drehen uns zu dem uniformierten Wachposten um, der neben uns erschienen ist. »Die Presse ist weggeleitet worden.«
Chris schüttelt dem Mann die Hand, und es ist klar, dass es nicht ihre erste Begegnung ist. »Danke, Max. Sie sind ein guter Mann.«
Wir gehen auf einen Parkplatz und lassen uns in den Wagen gleiten. Ich schmiege mich unter Chris’ Arm, suche die Wärme seines Körpers, den Schutz, von dem ich mir unzählige Male geschworen habe, dass ich ihn nicht brauche. Aber heute Abend brauche ich diesen Schutz. Ich brauche ihn und Chris auf eine Weise, wie ich nie zuvor ein anderes menschliches Wesen gebraucht habe. Es ist gleichzeitig tröstlich und Furcht einflößend, zu begreifen, dass genau das eingetreten ist, was ich befürchtet habe. Ich weiß nicht mehr, wie ich ohne Chris leben soll. Ich weiß nicht, wo er anfängt und wo ich ende. Er sagt, er sei mein. Er sagt, ich sei sein, aber was auch immer Chris sagt, er ist überhaupt nicht wirklich mein. Er ist immer noch ein Gefangener seiner eigenen inneren Dämonen und jetzt, und das bereitet mir Sorge, auch meiner.
Während der kurzen Fahrt zurück ins Hotel sprechen wir nicht miteinander und sind beide in Gedanken versunken. Die kalte Realität dessen, was gerade geschehen ist, dringt zu mir durch und kriecht durch meinen Körper. Obwohl draußen fast dreißig Grad sind, zittere ich, und Chris streicht mir mit der Hand über den Arm. Ich drehe mich zu ihm um, bette das Ohr an seine Brust, lausche auf seinen Herzschlag und versuche, mich in dem stetigem Rhythmus zu entspannen. Aber meine Gedanken schweifen ab, und mein Vater findet einen Weg in meinen Kopf. Ich sollte jenseits seiner Reichweite sein, außerstande, irgendetwas zu fühlen, das ihn betrifft. Aber so ist es nicht. Meine Mutter ist tot. Meinen Vater interessiert das kein bisschen, und ihn interessiert auch nicht, ob ich tot bin. Michael ist der Sohn, den mein Vater wollte, und er würde alles, was Michael getan hat, als notwendig rechtfertigen, selbst die Tatsache, dass er sich mir aufgezwungen hat.
Als wir durch die Hotellobby gehen, bin ich ein Nervenbündel. Ich will mir diese Gedanken aus dem Kopf schlagen, aber ich kann ihnen nicht entrinnen, und der verdammte Druck auf meiner Brust wird nicht weggehen.
Im Aufzug zieht mich Chris in die Arme, schmiegt meine Hüften an seine, seine Hand auf meinem Rücken. Ich fahre mit den Fingern durch sein blondes Haar, schaue ihm suchend ins Gesicht und finde genau das, was ich befürchte. Er macht sich Sorgen um mich, um uns, Sorgen, dass meine Vergangenheit, meine Schwäche in Bezug auf Michael bedeutet, dass ich zu zerbrechlich bin, um Teil seines Lebens zu sein. Die Reaktion, die ich bei Chris befürchtet habe, war nicht Hass. Ich hasse mich genug. Ich bin voller Hass. Ich habe ihn gelebt. Nein. Was ich von Chris befürchtet habe, war Mitleid. Er, der mich ansieht, als wäre ich ein waidwundes Tier. Ich stoße ihn weg und versuche, aus seiner Reichweite zu treten. Seine Finger halten meine
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