Enthuellungen eines Familienvaters
hatte. Sie war besiegt, aber nicht bezwungen. An der Tür drehte sie sich um und wies auf Margherita: „Die da steigt immer auf das Gras, wo der Zettel ist, daß es verboten ist!“ sagte sie böse zum Kommandanten der Wachleute.
Es war wahr, es ist eine unverzeihliche Schwäche Margheritas, die ich immer getadelt habe.
Glücklicherweise nahm der Kommandant der Wachleute von der Anzeige keine Notiz, da jede Zeugenschaft fehlte; wir konnten also alle nach Hause zurückkehren.
„Wenn du groß bist, werde ich dich in die Erziehungsanstalt für schlimme Mädchen stecken!“ sagte Margherita.
„Wenn ich groß bin, werde ich kein Mädchen mehr sein“, antwortete Carlotta verächtlich.
Darauf erzählte Margherita ernst die Geschichte von dem berüchtigten Franti, der seine Mutter aus Kummer sterben läßt. Carlotta zuckte die Achseln. „Ich bin nicht deine Tochter, ich bin die Tochter meines Vaters.“
So machte sie mich zum Partner ihres grausamen Spiels.
Ich kann das große Plakat neben dem Mechanikpavillon der Messe nicht vergessen: Ein Dieselmotor im Durchschnitt, davor ein alter Arbeiter, der die linke Hand auf die Schulter eines jungen Arbeiters stützt und mit der rechten auf einen gelben Zettel zeigt, auf dem geschrieben steht „Reinach-Schmierung“. Es ist kein besonders poetischer Ausdruck, aber das Bild war so lieblich und heiter, daß man ganz perplex davor stehenblieb.
Ich war mit Margherita auf der Messe, und wir betrachteten lange die kleine Szene.
Schließlich seufzte Margherita tief auf: „Reinach-Schmierung... Was für ein edler Ausdruck! So muß man zu den Arbeitern sprechen, nicht sie vergiften, nicht sie gegen die Fabriksdirektoren aufhetzen!“
Wenn Margherita so etwas sagt, meint sie es ernst. Man muß bedenken, daß die Wörter oft zwei Bedeutungen haben: eine buchstäbliche und eine gefühlsmäßige. Als ich mit Margherita zum erstenmal nach Mailand gekommen war, war es Abend gewesen; und als wir auf den Domplatz gekommen waren, hatten wir uns auf die Treppen des Wahrzeichens gesetzt, um die Lichtreklamen zu betrachten. Und die erste, die vor unseren Augen aufblitzte, war „Schuherzeugung Varese“.
Wir sahen sie lange an, und dann, ich erinnere mich genau, seufzte Margherita: „Schuherzeugung Varese... Die Poesie der Großstadt! Wie man sich da wunderbar allein fühlt inmitten der unermeßlichen lärmenden und stürmischen Menge...“
Margherita hat die köstliche Gabe, die gefühlsmäßige Bedeutung der Wörter zu erfassen; und wenn sie heute irgendwo geschrieben sieht „Schuherzeugung Varese“, seufzt sie: „Schuherzeugung Varese... Es war ein anderes Mailand, Giovannino, es war das erste Mailand unseres Lebens, und wir fühlten uns, obwohl wir zu zweit waren, zahlreicher als heute zu viert.“
Nach der Reinach-Schmierung sahen wir andere Dinge, darunter ein viermotoriges Flugzeug. Carlotta blieb stehen und sagte: „Kauf mir’s!“
Ich mußte nun ziemlich lange reden, aber es gelang mir, Carlotta zu beruhigen, indem ich ihr einen Vergaser für ein 125er Motorrad kaufte.
„Sie hat einen ausgeprägten Sinn für Mechanik“, bemerkte Margherita. „Vielleicht können wir aus ihr eine tüchtige Lokomotivheizerin machen. Manchmal ist es besser, ein Kind wird ein guter Heizer als ein mittelmäßiger Advokat. Und außerdem: auf diese Art reist man, sieht man, lernt man!“
Der Vergaser interessierte Carlotta auch zu Hause noch sehr lebhaft, und sie zog sich zurück, um den Mechanismus zu analysieren. Bevor sie einschlief, rief sie mich und teilte mir ganz diskret das Ergebnis ihrer Nachforschungen über den Vergaser mit: „Er heißt Giacomo, und wenn er groß ist, wird er Doktor werden. Er hat keine Mama mehr, und sein Vater sitzt, weil er ein Brot und eine Wurst gestohlen hat.“
Margherita war durch diesen Umstand sehr betroffen. „Wenn sich hier das soziale Gewissen nicht geltend macht, wird es eine Revolution geben. Es ist nicht gerecht, daß ein armer Teufel in den Kerker gehen soll, weil er aus Hunger ein Brot und Wurst stehlen mußte.“
Ich hielt ihr entgegen, daß es sich hier um den Vater des Vergasers handle.
„Das ist unwesentlich; der Hunger ist für alle gleich, vor dem Hunger gibt es keine Klassenunterschiede.“
Sie legte den Kopf auf das Kissen zurück, aber dann kam ihr ein Zweifel, und sie rief mich.
„Was meinst du — besteht keine Gefahr, daß Saragat darangeht, die Leute nach Sibirien zu deportieren?“
„Das halte ich für
Weitere Kostenlose Bücher