Entmündigt
Schütteln trotz der anhaltenden Muskellähmung ging durch den Leib, die Bauchdecken zogen sich zusammen und erschlafften wieder, die Augenlider flatterten, rissen auf und zogen sich wieder zusammen über nach oben gedrehte, zitternde Augäpfel. Dann lief das Zucken über das Gesicht, die Arme entlang zu den Händen, über den Bauch zu den Füßen und Zehen … Früher waren die Geschockten hochgeschnellt, hatten sich wie ein Bogen gespannt und waren wieder zurückgeschnellt, ein Vorgang dämonischer Gewaltentfesselung, hervorgerufen durch ein elektrisches Gewitter im Gehirn des Menschen. Es war ein künstlich erzeugter epileptischer Anfall gewesen. Jetzt war das alles sehr gemildert …
»Ende!« sagte Professor v. Maggfeldt. Er drückte auf den Schaltknopf. Der Strom war abgeschaltet. Ein Bett wurde in den Behandlungsraum gerollt. Zwei Schwestern hoben Frau Paulis hinein, deckten sie dick mit Decken zu und fuhren sie hinaus in einen ›Wachraum‹. Dort blieb Frau Paulis unter Aufsicht eines Arztes, bis sie aus der Narkose erwachte. Es konnte eine halbe oder gar eine Stunde dauern. Auch hier standen für alle Fälle ein Beatmungsgerät und ein Injektionskasten bereit.
Professor v. Maggfeldt wusch sich die Hände. Oberarzt Dr. Pade trug den Schock in die Patientenkartei ein.
»Ob sie wohl wieder ein halbes Jahr Ruhe hat?« fragte er, als er die einzelnen Schubintervalle miteinander verglich.
»Ich werde etwas anderes versuchen.« Maggfeldt trocknete sich die Hände ab. »Wir werden Frau Paulis einen großen Hund kaufen.«
»Einen Hund?« fragte Dr. Pade entgeistert.
»Einen Hund! Er kann gar nicht groß genug sein. Was ist gegenwärtig der größte Hund?«
»Ein Bernhardiner … oder eine deutsche Dogge … Vielleicht gibt's auch noch größere. Ich weiß es nicht.«
»Bernhardiner. Das ist gut. Schreiben Sie sofort an den Tierschutzverein, er soll uns eine Bernhardinerzucht nennen. Und dann kaufen wir einen, einen ausgewachsenen, mit schönem langem Haar, damit Frau Paulis auch recht viel Arbeit mit ihm hat. Und diesen Hund nennen wir – Ludwig …«
»Herr Professor!« Oberarzt Pade sah seinen Chef zweifelnd an. »Das löst einen neuen Schub aus.«
»Abwarten, Pade! Wenn ja – stellen wir sie ruhig und schocken sie wieder. Ich wette, daß sie sich an diesen neuen Ludwig gewöhnt. Sie bekommt eine neue Lebensaufgabe … der neue Ludwig will gepflegt werden, er muß zu essen haben, er muß ausgeführt werden, er darf nicht frieren, er muß gewaschen werden, gekämmt … und auch ein Bernhardiner wird einmal krank … dann muß er besonders mit Liebe umhegt werden … und wenn wir nachhelfen müssen, Pade, und dem Hund, ein künstliches Fieber injizieren. Sie sollen sehen … unsere Frau Paulis wächst in die neue Mutterrolle und wird ihren Schmerz um den echten Ludwig vergessen. Wir decken ihren alten Wahn mit einer neuerweckten Liebe zu …«
»Es klingt – verzeihen Sie mir, Herr Professor –, es klingt zu phantastisch …«
»Wie lange sind Sie Psychiater, Herr Pade?«
»Zehn Jahre, Herr Professor.«
»Zehn Jahre! Und Sie haben in diesen zehn Jahren noch nie erlebt, daß in der Psychiatrie alles möglich ist? Bei uns wird das Phantastische zum Normalen, das Unmögliche zur manchmal einzigen Möglichkeit. Das Teuflische im Menschen reagiert am meisten auf den Engel … das ist eine Gnade Gottes, die wir ausnutzen sollten …«
Dr. Ebert rückte die Narkosegeräte weg, als der Professor das Zimmer verlassen hatte.
»Manchmal kommt er mir wie ein versponnener Idealist vor.«
»Vielleicht muß man das sein?« sagte Dr. Pade nachdenklich. »Wie könnte man sonst 25 Jahre unter Irren leben und immer noch an den Menschen glauben …«
Dr. Budde sah auf seine Armbanduhr.
Seit zwei Stunden hupte er vor dem Tor der Klinik.
In einigen Abständen waren mehrere Pfleger vorbeigekommen. Der Torwärter, der rechts vom Eingang in einem kleinen Haus saß und von dort den Öffnungsmechanismus betätigte, hatte bereits siebenmal mit der Verwaltung telefoniert.
»Wenn das nicht aufhört, könnt ihr mich selbst in eine geschlossene Abteilung bringen!« schrie er ins Telefon. »Ich sage es doch – hier draußen steht ein Idiot und hupt seit zwei Stunden ununterbrochen! Das hält ja keiner aus … hier, bitte, überzeugen Sie sich …« Er hielt den Hörer aus dem Fenster.
›Huhuhuhuhu …‹, gellte es drüben in der Verwaltung. Die Sekretärin wurde blaß. Ein Irrer vor der Haustür!
»Ich werde noch mal
Weitere Kostenlose Bücher