Entrissen
einmalige Sache. Ich hab das nie vorher gemacht und es wird auch nie wieder vorkommen. Bitte. Ich weiß ... ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.«
Wieder zog sie an der Tür.
»Bitte, Anni. Du musst es mir sagen. Wirst du zu Phil gehen?«
»Das wäre das einzig Richtige.«
»Ja, ich weiß. Und - machst du es?«
Sie hörte auf, gegen ihn anzukämpfen, und sah ihn an. Seufzte. Sie war immer noch wütend, aber ihre Miene war schon ein wenig weicher geworden. »Ich weiß es noch nicht. Ich sollte es ihm wirklich sagen. Aber ich weiß es noch nicht.«
Er ließ die Tür los, und sie verschwand im Gebäude. Clayton warf einen Blick zurück auf den Parkplatz und zu seinem auf Hochglanz polierten BMW. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
Was für ein verdammter Mist.
Dann folgte er Anni hinein und ließ die Tür hinter sich zufallen.
51
Marina saß in der Kantine des Polizeireviers, das aufgeschlagene Notizbuch und eine Tasse vor sich. Man hatte den halbherzigen Versuch unternommen, den Raum behaglicher zu gestalten, indem man bunte Stühle und Tische aufgestellt sowie die Wände in frischen Farben gestrichen hatte. Trotzdem sah die Kantine noch aus wie das, was sie war: ein Ort, an dem öffentliche Angestellte in aller Eile ihre Energiereserven auffüllten.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk, ohne feststellen zu können, ob es sich dabei um Kaffee oder um Tee handelte. Vielleicht schmeckte es einen Hauch stärker nach Kaffee - zumindest war Kaffee das, was sie bestellt hatte. Eigentlich war es ihr sowieso egal. Sie seufzte. Sie hatte den Kugelschreiber in der Hand und wollte alles aufschreiben, was bis jetzt passiert war, damit sie einen Ansatz entwickeln konnte, wie die Ermittlungen nun weitergehen sollten. Sie blickte auf die leere Seite. Ihr wollte nichts einfallen. Sie wusste einfach nicht, was sie schreiben sollte. Mit einem neuerlichen Seufzer legte sie den Kugelschreiber hin und nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee.
Sie hatte die ganze Zeit recht gehabt: Brotherton war unschuldig. Phil hatte versucht, ihn zu zermürben, hatte immer weitergemacht, selbst nachdem sie mit ihm gesprochen und 2-99
ihm versichert hatte, dass er nicht der Täter war. Wieder und wieder hatte er sämtliche Beweise gegen Brotherton heruntergebetet, ein Mantra der Schuld, hatte ihn gedrängt, endlich alles zuzugeben. Er hatte ihn abwechselnd angeschrien und versucht, ihn zu einem Geständnis zu drängen. Und nichts erreicht. Nicht weil Brotherton eine harte Nuss war, sondern weil er, wie Marina von Anfang an gewusst hatte, unschuldig war.
Irgendwann hatte Phil aufgegeben und das Verhör abgebrochen. Seitdem hatte sie weder ihn noch Fenwick oder Anni oder sonst jemanden gesehen. Sobald Phil aus dem Vernehmungszimmer gekommen war, waren sie alle den Gang hinunter verschwunden. Sie hatte nicht recht gewusst, ob sie ihnen folgen sollte, aber niemand hatte sich nach ihr umgedreht oder den Versuch unternommen, sie mit einzubeziehen. Da sie nicht gewusst hatte, wohin, war sie in die Kantine gegangen, um dort zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
Eigentlich sollte sie nach Hause gehen. Zu ihrem richtigen Job zurückkehren. In ihr altes Leben. Ihr Baby zur Welt bringen, ihre Praxis aufbauen, bis an ihr Lebensende mit Tony glücklich sein und nie wieder mit der Polizei zusammenarbeiten. Fenwick hatte mehr als deutlich gemacht, dass er keinen Wert auf ihr Fachwissen legte. Ihre Argumente stießen bei ihm auf taube Ohren. Was also hielt sie hier? Sie hatte schließlich noch einen richtigen Beruf. Sollten sie doch zusehen, wie sie allein klarkamen, sie hatte es nicht nötig, sich so behandeln zu lassen. Vergiss sie einfach. Den ganzen Haufen, auch Phil.
Bei diesem letzten Gedanken verspürte sie einen schmerzhaften Stich in ihrem Innern, und sie legte instinktiv die Hand auf den Bauch. Das Baby schien irgendwie unzufrieden. Wahrscheinlich lag es am Kaffee. Oder auch nicht. Vielleicht wollte es sie daran erinnern, dass bei diesem Fall mehr auf dem Spiel stand als die Laufbahnen und das Ansehen einiger Polizisten. Es ging um tote Babys und ihre Mütter. Darum, ihnen eine Stimme zu geben.
Meine Güte,
dachte sie bei sich.
Seit wann bin ich so abergläubisch? Und so sentimental?
Sie nahm einen weiteren Schluck von der lauwarmen Brühe in ihrer Tasse und packte ihr Notizbuch weg.
Sie war so sehr damit beschäftigt, in ihrer Tasche zu kramen, dass sie gar nicht bemerkte, dass jemand neben ihr stand.
»Darf ich
Weitere Kostenlose Bücher