Entrissen
den Kopf. Leute gab es ...
Sie wartete darauf, dass sie den Polizisten wiedersehen würde. Den großen, netten Polizisten mit den schicken Kleidern und der lustigen Frisur. Er sah gut aus, fand sie, auf eine gewisse Art. Doch kaum hatte sie das gedacht, regte sich ihr schlechtes Gewissen. Für sie durfte es keinen anderen Mann geben als ihren Ehemann.
Sie hörte nie auf das, was der Polizist sagte, sondern beobachtete nur die Bewegung seiner Lippen, während er sprach. Er hatte Falten an den Mundwinkeln, kleine scharfe Falten, die jedes Mal ein bisschen tiefer geworden zu sein schienen. Sie lächelte. Es war wie ein kleines Ritual. Irgendwie schön und beruhigend.
Aber diesmal war alles anders. Der Polizist war nicht da. Hester machte ein missmutiges Gesicht. Stattdessen war da eine schwarze Polizistin mit einer kratzigen Stimme, die Hester sofort unsympathisch war, und noch eine andere Frau. Jung und hübsch. Irgendwann trat die Schwarze zurück und ließ die andere reden. Hester spürte Zorn in sich aufsteigen. Wo war der nette Polizist? Die Frau ging ganz dicht an die Kamera heran und redete direkt hinein. Was sie zu sagen hatte, musste etwas sehr Ernstes sein, doch Hester war zu wütend, um ihr zuzuhören.
Aber die Frau redete immer weiter und starrte immer weiter in die Kamera. Hester hatte das Gefühl, als würde sie sie beobachten.
»Was glotzt du so?«, blaffte sie.
Am anderen Ende des Raumes gab das Baby ein leises Wimmern von sich.
Hester war das egal. Es passte ihr gar nicht, dass die Frau sie so anstarrte. »Was glotzt du mich so an?«, rief sie noch lauter. Das Baby jammerte und begann zu strampeln.
Hester war nicht dumm. Sie wusste, dass die Frau nicht wirklich durch den Fernseher schauen konnte. So was war unmöglich. Oder zumindest ziemlich unwahrscheinlich. Aber unangenehm war es trotzdem. Sie versuchte sich zu beruhigen und stattdessen darauf zu achten, was die Frau sagte. Wenn sie das tat, wenn sie sich ganz auf die Worte konzentrierte, konnte sie den Blick der Frau vielleicht vergessen.
»... bitte Sie inständig. Wenn dieses Baby bei Ihnen ist oder wenn Sie wissen, wer es haben könnte, setzen Sie sich mit uns in Verbindung. Wir müssen dringend mit Ihnen reden. Wir können Ihnen professionelle Hilfe anbieten. Bitte. Wir möchten nichts weiter, als mit Ihnen zu reden.«
Die Miene der Frau wurde noch ernster. Als wollte sie unbedingt, dass man ihr glaubte. Wie Hester, wenn sie log und wusste, dass nichts schlimmer gewesen wäre, als die Lüge zuzugeben.
»Bitte.« Noch immer blickte die Frau mit großen Augen in die Kamera. »Tun Sie es für das Baby. Und um Ihrer selbst willen. Bestimmt geht es Ihnen nicht gut. Bitte, melden Sie sich. Wir können Ihnen helfen.«
Dann war wieder der Reporter dran.
Eigentlich hätte Hester wütend auf die Frau sein müssen. In Wahrheit aber wusste sie nicht recht, was sie empfand. Die Wut war zwar da, aber es kam ihr vor, als wäre sie mit einigen anderen Gefühlen durcheinandergeraten, deren Namen sie nicht kannte. Es kam ihr sogar so vor, als würden sich die anderen Gefühle in den Vordergrund drängen, bis ihre Wut ganz unwichtig wurde. Sie wusste nicht, was das für Gefühle waren, aber sie gefielen ihr nicht. Sie machten sie traurig. Und das war nicht gut.
Und weil sie dieses komische Gefühl unbedingt loswerden musste und nicht wusste, wie sie es anstellen sollte, brüllte sie den Fernseher an. Brüllte aus Leibeskräften.
Davon wachte das Baby auf. Hester dröhnte der Kopf. Sie hätte nicht sagen können, wer von ihnen beiden lauter schrie. Irgendwann verstummte sie, so dass nur noch die Schreie des Babys zu hören waren. Hester war völlig außer Atem, als wäre sie gerannt oder hätte hart im Garten gearbeitet. Und das Baby plärrte immer noch.
Er sah gerade mit Hester fern, als die Frau ins Bild kam. Sie sprach mit ernstem Blick in die Kamera und bat denjenigen, der das Baby in seiner Gewalt hatte, es herzugeben. Zuerst war er überrascht. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er wusste nicht, woher ... dann fiel es ihm wieder ein: Leisure World. Der Yogakurs. Wie die Letzte. Er lächelte. Sie war auch schwanger.
Das brachte ihn auf eine Idee ...
Das Baby schrie immer weiter.
Stell das verdammte Geschrei ab, sonst tu ich es ...
Die Frau war aus dem Fernsehen verschwunden, die Nachrichten waren zum nächsten Thema übergegangen. Hester stand auf, ging zum Baby, nahm es auf den Arm und sah es an. Sie empfand weder Wut noch
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