Entrissen
jedenfalls auch nicht.« Phil seufzte, und Marina sah, unter was für einer Anspannung er stand. »Ich weiß, das ist nicht deine Aufgabe, aber wenn irgendjemand Worte finden kann, die zu dieser Person durchdringen, dann du.«
Sie sah ihn einfach nur an.
»Bitte.« Er blickte zu den Fernsehteams hinüber, dann wieder zu Marina und Anni. »Sogar das landesweite Fernsehen ist da, nicht nur die Lokalsender. Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.«
Marina schüttelte den Kopf und sah Anni an. »Nun?«, fragte sie.
»Ich mache es, wenn Sie es machen«, sagte diese. »Danke«, sagte Phil.
Die zwei Frauen gingen, um sich der wartenden Presse zu stellen. Phil hörte noch, wie Anni sich darüber beschwerte, dass sie nicht eher gewusst hatte, dass sie im Fernsehen auftreten würde - dann hätte sie vorher noch Make-up aufgelegt. Phil beobachtete sie, wie sie vor den Kameras Position bezogen. Er konnte nicht hören, was sie sagten, aber die Reporter hingen förmlich an ihren Lippen. Anni war überraschend selbstsicher, wie er fand. Und Marina wirkte ernst und aufrichtig. Ihm fiel auf, dass sie beim Sprechen immer wieder ihren Bauch berührte. Das schien ein neuer nervöser Tick von ihr zu sein.
Nach wenigen Minuten waren sie fertig und kamen zu ihm zurück, verfolgt von einem weiteren Blitzlichtgewitter.
»Gut gemacht«, meinte er.
Marina lächelte. »Danke schön. Jetzt kann ich >Medienstar< auf meinem Lebenslauf ergänzen.«
»Genau«, sagte Anni. »Und ehe Sie es sich versehen, sitzen Sie in der Jury von
X-Factor.«
Wieder musste Marina schmunzeln, doch dahinter verbargen sich Müdigkeit und Anspannung.
Phil wandte den Blick ab, aber sie musterte ihn weiter. Er griff sich an die Brust, als habe er plötzlich Schmerzen. Sie wusste, dass er sich vor Anni und seinem Team nichts anmerken ließ, aber sie hatte es bemerkt. Und sie wusste auch, was es war: eine Panikattacke. Urplötzlich erwachte der Beschützerinstinkt in ihr.
Phil hörte auf, sich die Brust zu reiben, und atmete mehrmals tief ein.
»Kommt«, sagte er und drehte sich wieder zu ihnen um. »Lasst uns anfangen. Die Uhr tickt. Wir müssen das Baby finden.«
Er drehte sich um und ging in Richtung des mobilen Einsatzzentrums davon. Marina holte ihn ein.
»Danke«, sagte er und blickte nach vorn. »Du hast was gut bei mir.«
Marina gab keine Antwort, sondern lächelte bloß.
55
Das Baby war ruhig. Endlich. Hester hatte es auf den Arm genommen, ihm etwas zugeflüstert und es hin und her gewiegt. Die Bewegung hatte es schläfrig werden lassen. Irgendwann waren ihm die Augen zugefallen. Nach einiger Zeit war es wieder aufgewacht und hatte Hunger bekommen. Hester hatte ihm Milch gegeben, und es hatte getrunken. Hester fühlte sich gut. Stolz. Sie hatte alles im Griff.
Jetzt schlief das Baby in seiner Wanne, und Hester hatte den Fernseher eingeschaltet. Hester liebte Fernsehen. Vor allem die Werbung. Das Zeug dazwischen verstand sie oft nicht. Manchmal machten die Leute irgendwas, und dann wurde gelacht, und sie hatte keine Ahnung, warum. Oder die Leute waren ganz ernst und traurig, und Hester konnte nicht begreifen, was ihnen solchen Kummer bereitete. Es gab Sänger und Tänzer, die donnernden Applaus bekamen, aber sie verstand nicht, weshalb das Publikum so aus dem Häuschen war. In solchen Sendungen musste man anrufen und für den Besten stimmen. Aber sie hatte keine Ahnung, wer der Beste sein sollte.
Im Moment sah sie gerade die Nachrichten. Sie hatte damit angefangen, kurz nachdem sie ihr erstes Baby bekommen hatte, und seitdem war sie süchtig danach. Erst sah man Fotos von lachenden jungen Frauen auf dem Bildschirm, dann kam ein Schnitt und ein Reporter meldete sich von einem Tatort. Sie wusste, dass es sich um einen Tatort handelte, weil die Polizei im Hintergrund herumlief. Und weil der Reporter es mit sehr ernster Stimme erklärte.
Hester wusste es besser. Das waren keine Tatorte, sondern Gebärzimmer - so nannte ihr Mann sie. Wo die Leihmütter -
ihre
Leihmütter - für sie ihre Babys hergegeben hatten. Damit sie eine Mutter sein konnte. Beim Zuschauen spürte sie ein Kribbeln im Bauch. Dann schnappte sie ein Wort auf, das der Reporter benutzte - willkürlich. Sie runzelte die Stirn. Was hatte das mit Willkür zu tun? Es gab doch ihre Liste. Sie hatte sie an die Küchenwand geheftet und die Namen, die schon drangekommen waren, durchgestrichen. Aber es standen noch viele weitere Namen darauf. Verständnislos schüttelte Hester
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