Entrissen
nach dem Hörer und wollte den Türöffner drücken. Aber Sophie war schneller als er und stieß seinen Arm beiseite.
Die schwarzen Punkte vor seinen Augen wurden immer mehr. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Mit aller ihm verbliebenen Kraft schüttelte er Sophies Hand ab und drückte auf den Türöffner. Schrie in den Hörer: »Hilfe ... helft mir ... so hilf mir doch jemand, verdammt...«
Phil und Anni sahen sich an. Mehr mussten sie nicht hören. »Welcher Stock?«, fragte Phil. »Zweiter.« Sie rannten los.
Claytons Kräfte schwanden. Seine Beine konnten ihn nicht länger tragen, und vor seinen Augen war nur noch ein Meer von Schwarz. Er brach vor der Tür zusammen. Bevor ihm die Augen zufielen, fühlte er trotz des rasenden Schmerzes in seinem Körper auf einmal Schuld. Seine Mutter. Er hatte versagt, war ihren Träumen nicht gerecht geworden.
Dann schlossen sich seine Augen für immer.
Er spürte nicht mehr, wie Sophie ihn an den Beinen packte und aus dem Weg zerrte.
»Die hier ist es!«, rief Anni draußen vor Claytons Wohnung.
Phil zog an der Klinke. Die Tür war verschlossen. »Scheiße.«
Dann, zu seiner Überraschung, öffnete sie sich plötzlich einen Spaltbreit. Er warf Anni einen flüchtigen Blick zu. Sie nickte. Beide waren bereit.
Die Tür öffnete sich ganz. Ihnen gegenüber stand Sophie Gale. Als sie Phil und Anni sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie war in Eile, offensichtlich hatte sie damit gerechnet, dass jemand kommen würde, nur nicht damit, dass derjenige warten würde.
Phil setzte an, sie über ihre Rechte aufzuklären.
»Sophie Gale, ich -«
Weiter kam er nicht. Sie ließ ihre Reisetasche fallen und versetzte ihm mit ihrem Stiefel einen schnellen Tritt zwischen die Beine. Ein unvorstellbarer Schmerz durchschoss ihn, er krümmte sich vornüber und hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
Sophie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Aber Anni wartete bereits auf sie.
Sie war klein, aber eine zähe Kämpferin. Beim Kampfsporttraining hatte sie einige Tricks gelernt, die ihr auch gegenüber einem überlegenen Gegner einen Vorteil verschafften. Bevor Sophie irgendetwas versuchen konnte, klappte Anni die Finger der rechten Hand um und schob den Handballen vor. Mit dem schlug sie Sophie so hart und schnell sie konnte auf die Stelle zwischen Nase und Oberlippe.
An dieser Stelle, das wusste Anni, lagen jede Menge Nervenenden. Kleiner Aufwand, große Wirkung. Und Anni hatte fest zugeschlagen.
Sophies Hände flogen zu ihrem Gesicht. Sie schrie gellend auf vor Schmerz. Anni tat einen Schritt auf sie zu. »Sophie!«
Die andere Frau ließ die Hände sinken. In ihren Augen funkelte rasender Zorn. Sie war zum Gegenangriff bereit.
Anni schlug ein zweites Mal zu, nur noch schneller und härter als zuvor.
Das reichte. Sophie kippte hintenüber. Anni trat zu ihr, kniete sich neben sie und versetzte ihr noch einen harten Faustschlag auf die Nase. Blut begann zu fließen.
Dann zog Anni ein Paar Plastikhandschellen aus ihrer Jeanstasche, packte Sophies Handgelenke, drehte ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie.
Erst dann warf sie einen besorgten Blick auf Phil. »Alles in Ordnung, Boss?«
Er rappelte sich mühsam auf. »Ja ...« Dann zeigte er auf die offene Tür. »Sehen Sie nach Clayton ...«
Anni stieg über die am Boden liegende Sophie hinweg. Als sie sah, was passiert war, schrie sie unwillkürlich auf.
»O mein Gott!«
»Ich rufe den Rettungsdienst«, sagte Phil und zog sein Handy aus der Tasche.
Anni kam zurück zur Wohnungstür, stand einfach nur da und ließ ihren Kopf hängen.
»Dafür ist es zu spät, Boss. Er ist tot.«
DRITTER TEIL
66
Hester blickte auf das Baby herab, das in seinem Bettchen lag und schlief. Es war rosiger, größer und gesünder als das letzte. Es war genau so, wie sie es im Fernsehen gesehen und in den Büchern gelesen hatte. Genau wie ein Baby sein sollte. Also konnte sie auch erwarten, dass sie, während sie es betrachtete, von einem überwältigenden Gefühl der Liebe überschwemmt würde, so wie es in den Büchern stand.
Aber nichts dergleichen geschah. Eigentlich wusste Hester gar nicht genau, was sie empfand.
Nein, Liebe war es nicht. Zumindest glaubte sie nicht, dass es Liebe war, weil Liebe keine Vergleiche zog. Liebe wog nicht eine Sache gegen eine andere ab. Hester ertappte sich aber dabei, wie sie immer wieder an das erste Baby dachte. Obwohl es dauernd krank gewesen war, hatte sie es
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