Entrissen
Trümmerhaufen. Sie erschrak, als ihr das Ausmaß der Verwüstung klar wurde, und ihre Hand flog automatisch zum Mund. Dann sah sie, was inmitten des Ganzen lag. Und begann am ganzen Körper zu zittern.
Tony lag in der Mitte des Zimmers am Boden. Sein ganzer Körper war seltsam verrenkt. Marina konnte ihn nur anhand seiner Kleidung erkennen, denn sein Gesicht war über und über mit Blut verschmiert. Sie ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Sein Kopf lag in einer Blutlache, an Stirn und Schläfe klafften tiefe Wunden. Als sie ihn vorsichtig berührte, spürte sie, dass sein Schädel nachgab wie eine zerbrochene Eierschale, die nur noch von der inneren Membran zusammengehalten wird.
Ekel und Entsetzen stiegen in ihr hoch. Hastig zog sie ihre Hand zurück. Ein leises Wimmern drang aus ihrer Kehle.
Hinter ihr fiel krachend die Haustür ins Schloss.
Sie fuhr herum. Eine Gestalt in einem langen Mantel versperrte ihr den Weg. In der einen Hand hielt der Eindringling einen Hammer, von dem noch Blut tropfte, in der anderen eine Spritze.
Instinktiv wusste Marina, wer es war.
Sie wollte aufspringen, war aber nicht schnell genug. Ihr mütterlicher Instinkt erlaubte ihr keine raschen Bewegungen, um das Baby nicht unnötig zu gefährden. Mit einem Satz war der Angreifer bei ihr. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber er kam ihr zuvor. Er ließ den Hammer fallen und schlug ihr eine raue, schwielige Hand vor den Mund. Sie war noch glitschig und feucht von Tonys Blut. Sie presste sich so fest über ihren Mund, dass sie keinen Laut von sich geben konnte.
Marina wehrte sich nach Leibeskräften, versuchte, ihren Angreifer irgendwie zu fassen zu bekommen, schlug und trat wie rasend um sich. Es nützte nichts. Er war größer und stärker als sie. Unerbittlich hielt er sie umklammert. Ihr war, als würde sie direkt in seinen stinkenden Mantel hineingezogen.
Plötzlich wurde sie herumgerissen. Marina sah die Spritze auf sich zukommen und kämpfte noch verzweifelter. Sie spürte kaum, wie die Nadel in ihren Hals drang.
Kurz darauf schlossen sich flatternd ihre Lider und ihr Körper erschlaffte.
Sie bemerkte nicht, dass ihr Angreifer sie festhielt, bis sie bewusstlos war, und sie dann vorsichtig, um keinen unnötigen Druck auf ihren Bauch auszuüben, aus dem Haus schleifte.
71
»Sie wissen bestimmt, was für Geschichten man sich über die Dörfer hier in der Gegend erzählt?«, fragte Sophie. »Die, die ganz weit abgelegen sind?«
»Man hört so einiges«, versetzte Phil. »Was genau meinen Sie?«
Wieder erschien das kranke Lächeln auf ihrem Gesicht, und das Licht der Neonröhren blitzte in ihren wahnsinnigen Augen. »Dass man nie weiß, welches Kind von wem ist.« Sie lachte kurz, dann wurde ihre Miene wieder ernst. »Wissen Sie, was ich meine?«
»Ah«, sagte Phil. »Diese Geschichten.« Er war in Colchester aufgewachsen und hatte die Gerüchte über die abgelegenen Küstendörfer gehört. Und er wusste aus eigener Erfahrung, dass die meisten von ihnen der Realität entsprachen, zumindest früher einmal.
»Wenn irgendwo ein Kind starb, dann verschwand plötzlich ein anderes Kind aus einer Nachbarsfamilie, um es zu ersetzen.«
»So was in der Art, ja.«
Sie nickte. »Und niemand hat was dazu gesagt.« »Nein«, sagte Phil. »Denn dann wäre herausgekommen, von wem das erste Kind war.«
Sophie lachte. »Sie kennen sie also auch.«
»Aber jetzt sind diese Dörfer nicht mehr ganz so abgeschieden, stimmt's?«, sagte er.
Sophie hörte auf zu lachen. Ein wehmütiger Ausdruck schlich sich in ihre Züge.
»Jetzt führen überall Straßen hin.«
Aber trostlos sind sie immer noch,
dachte Phil.
Unwirtlich. Den Elementen ausgesetzt.
Sophie seufzte.
»Also, über welches Dorf reden wir denn hier?«, fragte Phil, der hoffte, so ihren Geburtsort zu erfahren. Im Geiste hatte er die Küste von Essex vor sich. »Eins am Meer? Jaywick? Walton? Frinton?«
Sie antwortete nicht.
»Oder an einem Fluss? Bradfield? Wrabness vielleicht?«
In ihren Augen zuckte es. Er hoffte nur, dass jemand oben in Fenwicks Büro am Monitor saß und es gesehen hatte.
»Also«, sagte er, um die Sache etwas zu beschleunigen. »Sie wollten mir eine Geschichte erzählen. Über Ihre Familie. Ich höre.«
Sophie legte den Kopf in den Nacken, die Augen zur Decke gerichtet, als empfange sie ein Signal oder Instruktionen von einer unsichtbaren Quelle über ihr. »Wir waren zu viert ...«, begann sie. »Ich, mein Bruder, mein Vater ...«, sie
Weitere Kostenlose Bücher