Entrissen
hielt inne, ihre Miene änderte sich und ein undurchschaubarer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Und meine Mutter ...«
Sie verstummte, tief in ihren Erinnerungen versunken.
»Was war mit Ihrer Mutter?«, ermunterte Phil sie.
Sophies Kopf zuckte nach vorn, ihr Blick war wieder auf Phil geheftet. »Sie ist gestorben.«
»Sie ist gestorben.«
»Oder ... verschwunden. Ich weiß nicht. Irgendwie so was.«
»Und dann waren Sie nur noch zu dritt.«
Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn, als müsse sie scharf nachdenken. »Da waren noch ... andere Kinder. Oder wenigstens glaub ich, dass da noch andere Kinder waren. Ich weiß nicht genau.« Sie bewegte den Kopf hin und her, als wolle sie die Erinnerung zurechtschütteln. »Jedenfalls waren irgendwann nur noch wir drei übrig. Ich, mein Bruder und mein Vater.«
»Das war, als Sie noch Gail hießen?«
Einen Augenblick lang schien sie verwirrt, dann lächelte sie. »Ich hab nie Gail geheißen. Nicht bis ich nach Colchester gekommen bin. Ich war immer Sophie. Oder Sophia.«
»Sophia.«
»Meine Mutter liebte Filmstars.« »Sophia Loren«, sagte Phil. Sophie nickte. »Genau.« »Und Ihr Bruder?« »Heston. Nach -« »Charlton Heston.«
Ein weiteres Nicken. Dann verfinsterte sich ihre Miene. »Ja ...«
»Erzählen Sie weiter, Sophie«, sagte Phil in dem Versuch, sie wieder auf Kurs zu bringen. »Sie haben von Ihrer Mutter gesprochen. Sie ist gestorben? Oder verschwunden?«
»Ja ...«
Phil wartete. Es kam nichts. Sie brauchte einen weiteren Anstoß. »Und was ist dann passiert?«
Ihre Augen verdunkelten sich, als zöge an ihnen eine Wolke trauriger Erinnerungen vorbei. »Mein Vater ...« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Mein Vater ... er hatte ... Bedürfnisse ...«
Oh Gott,
dachte Phil.
Da haben wir es.
Etwas Ähnliches hatte er schon erwartet. Das also war die Ursache ihres Wahnsinns. Er senkte die Stimme und stellte eine Frage, deren Antwort er bereits kannte. »Was für Bedürfnisse?«
»Männliche Bedürfnisse.«
»Und Sie ... haben sie befriedigt?«
Sie nickte. »Ja.« Ihre Stimme klang höher, ängstlicher, als sei sie wieder zu dem Kind geworden, das sie damals gewesen war. »Ich musste mich um ihn kümmern.«
»Und wie alt waren Sie da? Als es anfing?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nachdem meine Mutter tot war. Verschwunden. Von da an.«
»Wissen Sie noch, wie alt Sie waren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Klein«, sagte sie mit einer Stimme, die zu dem Wort passte.
Phil schluckte schwer, machte aber weiter. »Nur Sie? Ihr Bruder nicht?«
Sie zog die Brauen zusammen, als eine weitere finstere Erinnerung Gestalt annahm. »Nein. Nur ich.«
Sie verstummte. Phil überlegte, ob er sie antreiben sollte, doch dann begann sie wieder zu sprechen.
»Aber versucht hat er es.«
»Wer? Ihr Vater?«
»Nein ... mein Bruder. Er hat es versucht. Versucht, meinen Vater daran zu hindern. Damit er ... keine Sachen mit mir macht.«
»Und hat er es geschafft?«
Sie sah ihn an, als könne sie nicht glauben, dass er allen Ernstes diese Frage gestellt hatte. »Natürlich nicht. Er war doch bloß ein Kind. Unser Vater hat ihn geschlagen, wenn er aufmüpfig war. Hat ihn windelweich geprügelt.«
»Er hat ihn misshandelt?«
Sie nickte.
»Regelmäßig?«
Sie seufzte. »Er hat die ganze Zeit auf ihm rumgehackt. Heston war nutzlos. Zu nichts zu gebrauchen. Ein Stück Dreck. Weil Heston nicht mal das tun konnte, was Sophia für ihn tat. So nutzlos war er. Dann hat er ihn verprügelt. Manchmal mit dem Gürtel. Mit allem, was gerade in Reichweite war.«
»Und hat er Ihnen auch weh getan? Ich meine, abgesehen von ...«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nie. Ich war sein Liebling. Nicht wie Heston. Der konnte es ihm nie recht machen.« Wieder versank sie in Schweigen. Dann lachte sie auf. »Wissen Sie was? Was wirklich komisch war? Heston war richtig eifersüchtig.«
»Weil... weil Sie die ganze Aufmerksamkeit von Ihrem Vater bekamen?«
Sophie nickte. »Er hat gehasst, was mein Vater mit mir gemacht hat. Er hat immer geschrien, was stimmt nicht mit mir? Warum will er mich nicht? Weil er eifersüchtig war, dass unser Vater es mit mir macht und mit ihm nicht. Weil das Liebe war. Was mein Vater mit mir gemacht hat, war ein Zeichen dafür, dass er mich lieb hatte, hat er gesagt. Und Heston hatte er nicht lieb.«
Phil schwieg. Er wusste nichts zu sagen.
»Und«, meinte er nach einer Weile, »wie lange ging das so?«
Sophie zuckte mit den Schultern.
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